14. Jahrgang | Sonderausgabe | 21. Mai 2012

Diener zweier Herren oder: Spagat unmöglich

von Werner Richter

Hallo Edgar, lieber Most,
nein, wir kennen uns nicht. Wir haben auch keine Schweine zusammen gehütet. Aber die Anrede geht in Ordnung, wir sind beide Thüringer. Da sind wir gewohnt, uns mit „Du“ anzureden, zumal wir beide dem dort ansässig gewesenen Proletariat mit Ziege und einem Morgen Wind hinterm Haus entfleucht sind, da gibt es kein Sie“, komme wer wolle. Und wir sind einer Generation. Diese Tradition hat sich in der dortigen Abgelegenheit wohl etwas länger gehalten als im übrigen Germanien, neben Blutrache und Inzucht. Trifft bestimmt auf uns so nicht voll zu, wenn Deine Erklärung der slawischen Abkunft (S. 103) stimmen sollte. Aber die ist etwas fraglich, da „hinterm Wald“, woher Du kommst, Slawen nicht gesiedelt haben sollen. Es sei denn, Deine Vorfahren sind ehedem aus Slawenien eingewandert oder wie ich beim großen Napoleon-Gedächtnis-Rennen angeschwemmt worden. Also, wir zwei Rucksackthüringer! Kann aber auch sein, Dein Name stammt von einem gleichnamigen alkoholischen Getränk. Jedenfalls war mir so, ich fand Dein Buch ganz gut, erst später, quasi wieder nüchtern, kamen mir Bedenken.
Prinzipiell ist es gut, wenn ein Wende-Gewinner-Ossi, sehr seltene Spezies, von sich hören lässt und die Abläufe den offiziellen Deutungen konträr darstellt. Da sind tatsächlich einige Dinge entschlüsselt benannt, die die Meinungsobrigkeit gern chiffriert im Umlauf wissen möchte. Es ist Dir nicht zu nehmen, viele bis heute verschwiegene Wahrheiten auch über die noch laufenden Finanzprozesse brutal, weil es die Realität ist, benannt zu haben. Die meisten Schreiberlinge des Kapitals schrecken da zurück. Und ich bin Dir dankbar, viele Details aus der Finanzwelt verständlich dargelegt zu haben.
Wie war denn das damals mit Kali Merkers? Da gab es doch das Werra-Abkommen noch zu DDR-Zeiten auf Druck der BRD zugunsten einer sauberen Werra über eine (Teil-)Stilllegung des Kaliabbaus. Da war doch bestimmt die Staatsbank eingebunden, hattest Du damals damit zu tun? Könnte das eine Rolle gespielt haben, als Du ungeschoren bliebest und einen schönen Posten nach der Wende einnehmen konntest? War da die DB auch beteiligt gewesen? Verstehe richtig, mich interessiert, ob Du einer der üblichen Udos bist oder Dir eine gewichtigere Rolle zugedacht worden war. Warst Du später am Bischofferode-Coup beteiligt? Das ergäbe eine logische Linie. Die DB war doch beteiligt oder gab es eine Schweinerei ohne sie? Hat sie ihren Anteil an der gewaltigen Umgruppierung auf dem Kalimarkt, die Gunst der Stunde nutzend, den Treuhandabwicklungsschleier, die Kaliabnehmer zwang, das miesere westdeutsche Kalisalz zu kaufen, in aufwendigere Technologien gezwungener maßen zu investieren, da dann das bessere Ostsalz nicht mehr geliefert wurde, aber die Marktführerschaft von Kali & Salz sicherte? Dann warst Du tatsächlich unentbehrlich. Du weißt nicht, wer Udo ist? Frag mal Deine Westkollegen, es betrifft deren internen Erkennungscode.
Es spricht für Deine Integrität, viel zu Erhaltung der Arbeitsplätze von Staatsbankmitarbeitern getan zu haben, das nehme ich Dir ab. Wie viel ist aber, sagen wir nach 5, 10, 15 oder 20 Jahren tatsächlich noch übrig geblieben? Wie viele der Planstellen hatten den KW-Vermerk? Wäre auch interessant, alles ist relativ. Aber allein die Zahl: 13.000 von 14.000 Mitarbeitern den Arbeitsplatz (S. 118) gesichert zu haben, das ist schon ordentlich. Aber mir wird auch unwohl dabei, wenn ich an mehr Stellen für Finanzjongleure denke. Die sind bestimmt in nicht geringer Menge zu den Investmentabteilungen gedriftet. Die hältst Du für sehr wichtig (S. 135), aber die sind es doch, die das von Dir zum Abschuss frei gegebene Spekulationsfeld ständig neu beleben. Letzteres willst Du abschaffen, den Kapitalismus ausdrücklich nicht, kannst Du ja auch gar nicht, wenn er es nicht selbst betreibt, aber Zügel anlegen schon mit Hilfe des Staates (S. 46, 221 u. a. O.). Ist „Investment“ nicht ein irritierender, falscher Begriff? Sind die tatsächlichen Investitionen der Banken in die Warenproduktion nicht verschwindend klein? Ich räume ein, dass Dir bezüglich Investments etwas anders vorschwebt als heute üblich gedacht wird. Könnte ganz lustig werden: Eine Bankenversammlung und der Finanzminister verliest einen Gesetzentwurf, der festlegt, was Banken dürfen und was nicht. Wie wäre die Reaktion? Heulen und Zähneklappern oder lautes Lachen unter Einsatz von Rettungsärzten? Diesen Spagat schaffst Du nicht ohne üble Zerrungen. Du darfst Dich ja Deutschbänker („Ein Deutschbänker, wie stolz das klingt!“ oder hieß es: „ein Mensch“?) nennen, oder Du machst das einfach, dafür hast Du ja die DB-Ganoven mit Samthandschuhen und relativierendem Verständnis für ihre schwere Vergangenheitsbewältigung angefasst, Teil Deines Spagats (S.113 ff.).
An der Stelle muss ich auf die Erzählung Deines Werdeganges, Dein Studium an der Hochschule für Ökonomie (S.143) und Marxens Schriften eingehen. Ganz gewiss hast Du Deinen Marx gelesen, ging ja gar nicht anders, aber ich befürchte, nicht so ganz begriffen, wie die meisten Marxstudierer. Nach den Studienvorgaben schon, mehr war nicht verlangt, als das zu lernen, was in die marxistische Wirtschaftstheorie aus- und eingewählt war, fast wie bei der Auswahl nur dem Endziel nützlicher Evangelien für die Bibel. Marx hatte jedoch keine Schablone geschaffen, die man auf die Welt legen und so diese erkennen konnte. Er schuf ein Denksystem, das viel tiefer gehen ließ und mit dem offiziellen Marxismus-Leninismus auf Kriegsfuß lebt. Einem Bänker ist das nur graue Theorie, im Geschäftsleben unbrauchbar. Aber Du begibst Dich leichtsinnig auf dieses Terrain, dazu muss etwas gesagt werden. Ich muss unwillkürlich an den dicken Kohl denken, der seinen Heine gelesen hatte. Gelesen schon, aber begriffen? Unwahrscheinlich (kurzer Lachkrampf). Dir ist die Existenz von Kapital und -ismus alternativlos. Für alle Ewigkeit? Einem Bänker in der Gegenwart selbstverständlich, mir auch, aber nicht so absolut. Frage: Sind denn Kapital, Wert, Geld, Ware von heute noch mit den gleichen Funktionen versehen wie vor 100 oder 200 Jahren? Findet da nicht ein ständiger Wandlungsprozess in Inhalt und Form statt, von den Wirkungen in der Gesellschaft ganz abgesehen? Wie ist der Vergesellschaftungsgrad der Warenproduktion heute? Grübelt man darüber, stellt sich eine historische Zementierung des Kapitalverhältnisses schon in Frage. Sieht man mit Marx nicht die allmähliche gesetzmäßige Selbstauflösung des privaten Kapitals? Ist das nicht längst Realität? Ist die Geldakkumulation der Großunternehmen tatsächlich nur ein Irrweg und „Fehler“(S. 28) oder gibt es hierfür nicht objektive Zwänge? Lässt Du Marxens Erklärung zur Entwicklung der Warenproduktion zu G-G-Beziehungen(Geldkapital zu Geldkapital. d. Red.) bewusst außer Acht, weil sie vielleicht Dein Wunschbild von der Heilbarkeit der Kluft zwischen Warenwirtschaft und Finanzwelt (S. 90 ff.) stören? Übrigens, „Finanzindustrie“ (S.90) ist ein völlig falscher Begriff. Industrie schafft unter gegebenen Verhältnissen Bedingungen für Wertschaffung, der Finanzsektor vernichtet diese.
Negiert man die objektive Seite, kommt man natürlich zu Klondike-Lösungen (S.229 ff.) zur Rettung der Gesellschaft. Sicher, solche Wege wird es geben, sie werden die private Aneignung der Gewinne der immer mehr gesellschaftlichen Arbeit noch ein wenig länger geschehen lassen. Aber für immer? Ab einem bestimmten Punkt wird dieser Widerspruch ein „weiter so“ unmöglich machen, dafür sorgen allein schon die inneren Gesetzmäßigkeiten. Glaubst Du wirklich, die niedliche Idee mit der Abschöpfung der (überflüssigen) privaten Gewinne und Finanzierung des gesellschaftlichen Lebens davon, wäre die ewige Lösung oder überhaupt eine ernsthafte? Wozu zum Teufel brauche ich dann noch private Gewinne? Diese Idee ist schon ziemlich alt, Wilhelm Weitling und Co. sind daran schon logisch gescheitert und lassen grüßen. Allerdings, als Evolutionsweg unserer Gesellschaft, als Reformmodul kann sie interessant werden, aber neben anderen, primären. Auch dazu hast Du fleißig eine Reihe von Ideen aufgegriffen bzw. entwickelt.
Jetzt habe ich’s Dir aber gegeben, gelle? Ach, Du verträgst das schon. Sollte Dir dieser Text von irgendjemanden, und ich bitte darum, vielleicht hat ein Blättchen-Leser die Möglichkeit, zugetragen werden, so sei Dir gesagt: Melde und wehre Dich, Du wirst im noch sich bildenden Kreis  der Wirtschaftstheorieüberdenker höchstwillkommen sein. Wir brauchen Dich.

Edgar Most: Sprengstoff Kapital, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2011, 256 Seiten, 14,95 Euro