15. Jahrgang | Nummer 10 | 14. Mai 2012

„Broader Middle East“: Wirklich ein weites Feld!
Es dreht sich nicht alles um Iran und Israel

von Joscha Schmierer

Kann man über den Frieden in der Welt und seine Gefährdung durch die Konflikte in Nordafrika und im Mittleren Osten noch sprechen, ohne über Günter Grass zu reden? Man muss es versuchen. Es gab noch selten einen Fall, in dem es einem Autor gelungen ist, statt des Problems, das ihm, wie er dichtet, auf die Seele drückt, sich selbst dermaßen ins Zentrum zu rücken, dass jedenfalls in der Bundesrepublik sich Dutzende von Talk-Runden an seine Vorgaben halten. Rauf und runter beschäftigen sie sich mit Grass, als wäre er das Problem und nicht dessen Verkennung durch ihn.
Grass hält Israel für den aggressiven Part im israelisch-iranischen Nuklearkonflikt. Andere sagen, er verwechsle Ursache und Wirkung. Wenn Israel mit einem Angriff auf den Iran drohe, dann nur deshalb, weil es vom Iran bedroht werde. Falls dieser in die Lage komme, eine Atombombe herzustellen, sei es existentiell in Gefahr und müsse deshalb der Bedrohung zuvorkommen. Spannungen entstehen im Wechselverhältnis. Weil es keine lineare Beziehung von Ursache und Wirkung gibt, kann sich ewig streiten, wer anfing. Was aber, wenn dieser ganze israelisch-iranische Konflikt eher von untergeordneter Bedeutung ist gegenüber der Gefahr eines fundamentalistisch propagierten und terroristisch agierenden Islamismus, der seinen Ausgang in extremistischen Schulen des sunnitischen Islam nimmt, reiche Förderer hat, arabischen Frustrationen entspringt, aber längst in Afghanistan, Pakistan, Indien und Südostasien Wurzeln schlagen konnte?
Das iranische Atomprogramm geht bekanntlich auf das Schah-Regime zurück und war seinerzeit bestimmt nicht vorrangig gegen Israel gerichtet. Als es unter dem Mullah-Regime wieder aufgenommen wurde, stützte es sich auf die Erfahrungen des achtjährigen Krieges mit dem Irak, als der Iran allein gegen ein umfassendes Bündnis arabischer und westlicher Staaten in einem nicht weniger schwierigen Existenzkampf stand als Israel  1967 und 1973. Die eher säkularen arabischen Regime wie Ägypten fürchteten den revolutionären Iran, die islamistischen arabischen Kräfte und Staaten wie Saudi-Arabien fürchteten die schiitische Spielart des Islamismus. Allein Syrien fiel damals als säkulares Regime, das sich auf eine Summe nicht-sunnitischer Minderheiten stützt, aus der arabischen Rolle.

Eine neue Welle des sunnitischen Extremismus?

Die israelische Regierung war von vornherein skeptisch gegenüber den Aufstandsbewegungen in den arabischen Ländern. Der Unsicherheit der Wende zog sie die Sicherheit der herrschenden Diktaturen vor. Das iranische Regime versuchte es dagegen mit dem Selbstbetrug, dass in Nordafrika nachgeholt würde, was die iranische Revolution 1979 vorgemacht hätte.
Auf längere Sicht wird der Weltfrieden viel stärker von den Entwicklungen in der arabisch-sunnitischen Welt und der Machtentfaltung der Taliban in Afghanistan und Pakistan abhängen als vom israelisch-iranischen Konflikt, dem Konflikt zwischen den beiden am meisten gefestigten Staaten in der Region. Klügere israelische Analysten begründen die Konfrontation mit dem iranischen Atomprogramm denn auch damit, dass es unvermeidlich die arabische Bombe nach sich ziehe.
Tatsächlich bleiben sowohl Israel als auch der Iran bedroht, am wenigstens allerdings voneinander. Doch sie setzen darauf, sich gegenseitig als Blitzableiter nutzen zu können in den Gewittern, die sich in einem für beide Staaten feindlichen Umfeld zusammen brauen könnten. Ihre Feindschaft untereinander ist abgeleitet. Sie versuchen Gefahren, die beiden drohen, auf den jeweils anderen umzulenken. Sie wissen es vielleicht nicht, aber sie tun es.

Kaum kontrollierbare Konflikte

Anders als in Zeiten des Kalten Krieges scheinen regionale Probleme und Konflikte ein solches Ausmaß und solche Virulenz anzunehmen, dass sie durch eine global orientierte internationale Politik kaum noch beherrscht und eingedämmt werden können. Die beiden Supermächte hatten ihren Laden jeweils im Griff. Regionale Konflikte außerhalb der Blöcke ließen sie als Stellvertreterkriege schwelen oder sie überließen sie sich selbst, wenn die Blockordnung von ihnen nicht berührt wurde. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts glaubten die USA noch als „einzig verbliebene Supermacht“, die globale Ordnung allein beziehungsweise in Koalitionen der Willigen in die eigene Hand nehmen zu können. Indem die USA dann den Irak und den Iran als Bestandteile einer Achse des Bösen ausmachten, folgten sie bewusst oder unbewusst einer saudischen Agenda, obwohl die Zusammensetzung der Attentäter vom 11. September 2001 eigentlich nahegelegt hätte, das strategische Bündnis mit Saudi-Arabien und den Golfemiraten grundsätzlich zu überprüfen. Es gab amerikanische Stimmen, die eben das forderten. Irak und Iran in eine Kiste von Feinden zu stecken, machte nur aus saudischer Sicht Sinn: Sie standen beide, trotz ihrer Gegensätze untereinander, der saudischen Machtentfaltung im Weg.

Rückgriff auf die UN

Nach dem unübersehbaren Scheitern der Politik des Do-it-yourself schon auf der ersten Etappe des Krieges gegen die Achse des Bösen und dem Wechsel im Amt des US-Präsidenten wird nun auch von den USA im Rahmen der UN ein internationales Konfliktmanagement versucht mit all den lähmenden, aber unvermeidlichen Reibereien unter den  Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates. So hat es lange gedauert, bis sich der Sicherheitsrat auf den Vermittlungsversuch Kofi Annans in Syrien einigen konnte. Die neuen Verhandlungen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates plus Deutschland mit dem Iran über sein Atomprogramm zielen ebenfalls darauf ab, Alleingänge zu vermeiden. Ob das gelingt, muss sich erst noch zeigen. Ministerpräsident Netanjahu hat bereits wissen lassen, dass er das alles für westliche Zeitverschwendung und iranischen Zeitgewinn hält vor dem unumgänglichen Waffengang.
Wenn sich der Sicherheitsrat unter Berufung auf die Responsibility to protect mal auf eine Intervention geeinigt hat wie im Fall des libyschen Bürgerkriegs, zeigen sich sehr schnell unterschiedliche Interpretationen des Beschlusses durch die westlichen ständigen Mitglieder auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite. Selbst wenn es gelingt, einen ersten Erfolg zu erzielen wie den Sturz Gaddafis, kann es sich erweisen, dass das Land aus dem Regen in die Traufe geraten ist. Die Verluste auf Seiten der Bevölkerung könnten größer gewesen sein als sie der Sturz des Regimes rechtfertigt, wenn an die Stelle von dessen Allmacht die Willkür lokaler Cliquen und Clans tritt. Folgekonflikte lassen sich nicht ohne weiteres durch die vorhandenen Staatsgrenzen eindämmen. So brauchte es nur wenige Wochen zwischen der Befreiung von Tripolis und den Schlagzeilen, dass Timbuktu nun in der Hand von Al Qaida sei, weil die erfolgreichen Tuaregrebellen durch islamistische Terroristen gesteuert würden. Mali könne zum neuen Afghanistan werden, hieß es. Ausgemacht ist das alles nicht. Sicher ist nur, dass der rasche Vormarsch der Tuareg-Rebellen ohne den Rückstrom von aus Mali stammenden Gaddafi-Söldnern mit ihrer militärischen Ausbildung und ihren modernen Waffen nicht möglich gewesen wäre.

Westlicher Überschwang, östliche Weisheit?

Manchmal hat man den Eindruck, dass die westliche Naivität gegenüber den Saudis und den Golfemiraten nur durch die russischen und chinesischen Sicherheitsratsmitglieder gedämpft wird. Schließlich waren sie es, die verhinderten, dass die USA, Frankreich und Großbritannien die Forderungen der syrischen Aufständischen zur Richtschnur des Handelns der UN erklärten. Erst dadurch wurde die Annan-Vermittlungsinitiative ermöglicht. Kluge Experten weisen darauf hin, dass die USA sich gegenüber Syrien auf einem schmalen Grat bewegen. Zwar hätten sie jedes Interesse, dass das Assadregime endet. Doch wüsste Washington, dass es zu einer schrecklichen humanitären Katastrophe komme, wenn mit dem Regime der ganze Staat zusammenbreche. „Es ist schwierig, Assads Herrschaft zu brechen, ohne Syrien zu zerbrechen“, meint Daniel Byman, Forschungsdirektor am Saban Center for Middle East Policy von Brookings, in einem Internet-Schnappschuss von Foreign Affairs. Die Annan-Initiative, die sich der Sicherheitsrat bei aller Skepsis gegenüber ihren Erfolgsaussichten schließlich zu eigen gemacht hat, bewegt sich auf diesem schmalen Grat. Dass die Initiative nicht nur durch Assads Truppen gefährdet sein könnte, belegen die Ängste der Minderheiten, nicht zuletzt die Sorgen der christlichen Flüchtlinge aus dem Irak vor einer neuen Verfolgung durch gewalttätige Islamisten. Es ist ja zu befürchten, dass die Kräfte, die das Regime ändern und zugleich das Land nicht dem Islamismus ausliefern wollen, auch in Syrien zwischen den Fronten zerrieben werden.
Wie stark der saudische Einfluss auf die westliche Politik ist, zeigt sich nicht zuletzt in Bahrein, wo eine schiitische Mehrheit nicht länger der Willkürherrschaft des Königshauses und seinen Söldnern ausgeliefert sein will. Von dieser Opposition liest man erstaunlich wenig hierzulande. Gab es einen offiziellen Protest gegen die Zerschlagung einer friedlichen Platzbesetzung durch saudische Truppen? Der Dichter Ali Al-Jallawi aus Bahrein hat in Berlin Unterschlupf gefunden. Er erzählte der Süddeutschen Zeitung (14.4.2012) von den nächtlichen Erlebnissen einer zweieinhalbjährigen Gefängnishaft: „Gegen 22 Uhr holten sie mich aus meiner Zelle. Nachts saß ich einem Mitarbeiter des Geheimdienstes gegenüber, der auf ein Stück Papier das Wort ‚Allah‘ schrieb. Dann steckte er den Zettel in eine Schublade und sagte: ‚Gott ist jetzt da drin. Ab jetzt bin ich für Dich Allah – und kann mit Dir machen, was ich will.‘“
An diesem Wochenende macht die Formel 1 in Bahrein Station (Der Beitrag wurde am 18.04.2012 publiziert – Anm. d. Red.) und besorgt dem Königshaus und seinen Gästen ein Event. „Dieses Rennen ist eine Schande“ zitiert die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung den Menschenrechts-Aktivisten Nabil Rabschab in der Überschrift ihres Gesprächs mit ihm im Sportteil. Sonst liest man höchstens von Sicherheitsrisiken für die Rennfahrer und ihr Gefolge.

Über Kreuz denken lernen

Wenn man die Schwäche der arabischen Staaten und die wachsende Stärke des extremistischen Sunnismus sieht, wenn man den finanziellen Einfluss Saudi-Arabiens auf diese Strömungen, sowie die Abhängigkeit des Westens vom Ölreichtum der Golfstaaten und die zentrale Bedeutung des US-Flottenstützpunkts in Bahrein bedenkt, dann erscheint einem das Paradox vielleicht nicht mehr so rätselhaft, dass sich der Westen in seiner Politik gegen die iranische Bedrohung ausgerechnet auf die Kräfte stützt, von denen auf Dauer die größte Gefahr für die internationale Ordnung ausgehen dürfte. Als ob es die afghanische Lektion mit der Unterstützung der Taliban durch Saudi-Arabien und den pakistanischen Geheimdienst nie gegeben hätte. Die USA spielten dabei lange mit. Die sowjetische Intervention sollte bekämpft werden. Da musste man nicht so genau hinschauen. Westliche Kräfte, die das Heil der internationalen Ordnung immer noch in einer globalen Vorherrschaft der USA suchen, haben bei der Politik im Nahen Osten natürlich auch immer im Auge, wie sie den Einfluss Chinas und Russlands schwächen können. Man muss leider sagen: Es ist ein Glück, wenn diese beiden Sicherheitsratsmitglieder westliche Dummheiten wie gegenüber dem Iran behindern und gelegentlich wie im Falle Syriens auch verhindern.
Doch dieses Glück hat eine entscheidende Voraussetzung: Dass in Washington ein Präsident am Ruder ist, der Allmachtphantasien der „einzig verbliebene Supermacht“ schon 2003 zu Zeiten des Angriffs auf den Irak nicht nachgab und in Afghanistan und Pakistan täglich vor Augen hat, dass von einem sunnitischen Panislamismus nicht nur die größte Gefahr für Afghanistan, sondern auch für die internationale Staatenordnung ausgeht. In einer solchen Situation sollte man alles tun, einen Staat wie den Iran auf die Seite der internationalen Ordnung zu ziehen, und mit diesem Ziel vor Augen Gewaltanwendung und Demütigungen tunlichst vermeiden. Insbesondere sollte man sich nicht vor den Karren Saudi-Arabiens spannen lassen. Selbst ist es nicht in der Lage, den Iran anzugreifen. Die USA zu einem solchen Angriff anzustacheln, versucht es schon länger. Falls Israel sich für einen Überfall  entscheidet, muss es keine saudischen Einwände gewärtigen. Langfristig hat Israel, haben die Menschen der Region und die Welt eher eine sunnitisch-extremistische Bombe (vielleicht aus Pakistan?) zu fürchten als das staatliche Atomprogramm des Iran. Es ist nicht falsch, einen Regime change im Iran anzustreben. Gewalt von außen wird ihn nicht erreichen und nur Chaos produzieren.

Zwischenruf zur Außenpolitik auf der Homepage der Heinrich-Böll-Stiftung vom 18. April 2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Böll-Stiftung und des Autors.