15. Jahrgang | Nummer 8 | 16. April 2012

Ivan Nagel: Ein bisschen die Welt umstürzen

von Reinhard Wengierek

Er hat viel geschrieben: Theatertheoretisches, Theaterkritiken, Theateressays, Bücher über Mozart, über seine Lieblingsregisseure Castorf, Sellars, Wilson, Zadek, Lepage, Savary. Und immer hat Ivan Nagel sich schwer getan dabei. Denn: Ein Komma, ein einzelnes Wort kann eine Sache verschmieren. Aber alles Schmierige, alles dahin Geredete und Gedrechselte, all jener auf Pointen erpichte Schnellschreib- und Schnellspiel-Betrieb war Ivan Nagel zuwider. Eben jene gewieften Oberflächenpoliererer, wie er sagte, die sich so erschreckend vermehrt hätten in den letzten Jahren und – als Regisseure – kein tiefer gehendes Bild mehr hätten vom Menschen, sondern überwiegend „verdrießliche Sinnlosigkeit“ produzierten. Diesem fatal überhand nehmenden Theater fehle das Vertrauen in die Größe von Dramen, also in die entsetzliche Tiefe und Schwere menschlicher Konflikte. So sein bitteres Resümee des vergangenen Jahrzehnts deutschsprachigen Theaters. Nun muss dessen überaus rasender Betrieb ohne diesen tapferen Einhaltgebieter auskommen: Ivan Nagel ist am Dienstag achtzigjährig in Berlin verstorben.
Ja, dieser Mann konnte nichts einfach nehmen in der Kunst; der konnte geradezu nervend skrupulös sein. Pingelig pochte er auf Genauigkeit, und war dennoch kein sturer Beckmesser, sondern ein zutiefst Fühlender, ein phantasievoll Schwärmender, ein graziös Liebender der Künste – unentwegt darauf aus, sich hinreißen zu lassen. Von Mozart und da Ponte sowieso; allein derentwegen hat der dem Budapester bürgerlich-jüdischen Milieu entstammende Weltgewandte Italienisch gelernt. Und gleich im Titel seiner großen Mozart-Monografie „Autonomie und Gnade“ steckt sein Daseinsmotto.
Was Ivan Nagel sonderlich fesselte war, was jetzt gern vorschnell geschmäht wird als Regietheater. Nagel meinte Inszenierungen, die, gleich mit welchem Text, einen neuartigen Kommentar liefern zur Gegenwart. Wie das gehen kann oder eben nicht gehen kann, davon ist, gültig für jederzeit, in seinem zum 75. Geburtstag erschienen Draufblick-Buch „Drama und Theater. Von Shakespeare bis Jelinek“ die Rede.
Für Nagel, der sich vor den Nazis retten konnte, der in die Schweiz floh und in Zürich und Frankfurt bei Adorno („mein intelligentester Schüler“) studierte, für diesen hoch politischen Schöngeist blieb Kunst fest gebunden an Aufklärung. Mithin sollte auch das Theater, da war er dogmatischer Maximalist, mindestens ein bisschen die Welt umstürzen, „falschen Traditionen in die Parade fahren“, einer „Verlogenheit die Wahrheit entgegen schreien“, Herkömmliches aufspießen und „eingefahrene Gemütlichkeit“ stören. Künstlern von solcher Art galt unermüdlich seine trotzige Sympathie: als Kritiker der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen, als Dramaturg der Münchner Kammerspiele, als Intendant des Hamburger Schauspielhauses, als Schauspielchef in Stuttgart, zuletzt als Ästhetik-Professor in Berlin.
Nagels Leidenschaft für das Schöne, dem stets auch ein bislang Unerhörtes eingeschrieben sein muss (wie in seiner opulenten Streitschrift über die Historienmalerei der Florentinischen Hochrenaissance „Gemälde und Drama“; These: Homosexualität ist konstituierendes Element der künstlerischen Revolution schlechthin), also dieser Nagelsche Feuergeist stützte unentwegt die Erneuerungskräfte des deutschen Theaters. – „Der kluge Theaternarr liebt sein Metier gegen alle Widrigkeiten.“ Also: Kaum eine wichtige Premiere ohne die reisefreudige Eminenz, die hinter den Kulissen ihre Fäden zog, die ihrer hellen Begeisterung stets durchaus vornehm Lauf ließ oder die offen scharfen Unmut ausstieß; etwa gegen die Unkultur kommerzieller Verflachung, gegen das Event-, Quoten- und Regressionsdenken der Kulturpolitik.
Wenn es seiner Meinung nach sein musste, trat Ivan Nagel gar heftig polemisch ins Öffentliche. Etwa mit seinem „Falschwörterbuch“, einer Sammlung von Streitschriften wiederum gegen Verschmiertes: gegen „Krieg und Lüge am Jahrhundertbeginn“, gegen das, wie er vehement moralisierend meint, obszöne Propagandatheater der US-Administration nach dem 11. September 2001.
Der alte Aufklärer, der vornehme Herr des Denkens als jugendlich wetternder homme engagé, als einer, der dem Holocaust entkam und nur zu Recht meinte, zumindest dieses eine sich unbedingt leisten und uns immer wieder zumuten zu müssen: nämlich sein erfahrungsreiches, so vernunftgesteuertes wie glühend kämpferisches Reden über „Toleranz und Intoleranz“. Bis zuletzt noch schrieb er, man darf meinen selbstquälerisch, an einem Buch über Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, das demnächst erscheinen wird. Es wird nun zu seinem Vermächtnis – aber wohl auch eine erneut erhellende Zumutung. Die wird uns nun fehlen; wie überhaupt der ganze große Mann.