15. Jahrgang | Nummer 8 | 16. April 2012

Alexanderplatz, Hinterhof

von Erhard Weinholz

Vieles modernisiert oder gänzlich umgestaltet hat man während der letzten zwei Jahrzehnte im Quartier nördlich vom Berliner Alex, manches abgerissen und neu gebaut. Das einstige Haus der Elektroindustrie, das sich oberhalb des Platzes von Ost nach West erstreckt, hat seine Aluminium-Fassade aus den späten Sechzigern zwar behalten, doch im Inneren des Zehngeschossers sind die Räume längst neu aufgeteilt. Der unscheinbare Trakt rechts um die Ecke, zum ehemaligen Haus des Reisens hin, hat einmal Bundeswehrbüros beherbergt, jetzt dient er als Hotel. Ein monumentaler Dreißiger-Jahre-Bau schließt sich an, zu DDR-Zeiten Sitz des Polizeipräsidiums von Berlin (Ost). Auch hier hingen Schuttrüssel aus den Fenstern, waren Presslufthämmer am Werk. Nun aber ist Ruhe eingezogen. Links herum, an der Liebknechtstraße, kommt man zum jüngst eröffneten Münchner Hofbräuhaus, einem Flachbau, dessen Ostherkunft nicht einmal mehr zu erahnen ist. Hofbräuhaus … in Berlin und obendrein an dieser langweiligen Ecke – völlig chancenlos, hatte ich noch  letzten Herbst gedacht. Irrtum: In dem weiten Saale tobt ein immerwährendes Oktoberfest und bringt Tagesumsätze von bald 20.000 Euro. Die DDR-Platte neben dem Hofbräu hat letztes Jahr einem Hotelgebäude im Retrostil weichen müssen.
Und inmitten all dieser Großbauten? Da liegt seitab ein wenig bekannter Bezirk, seit langem im Niedergang begriffen. Die verwilderte, eingezäunte Fläche gleich hinter dem Haus der Elektroindustrie war einmal ein Kindergartenspielplatz. Geblieben sind davon zwei Abfallbehälter, ein niedriger Tisch und ein paar Sitzwürfel, alle aus Beton. Die Sandflächen sind überwuchert, Schwarzpappeln und kleine Ahornbäume verdunkeln das Gelände. Auch Ilex, die Stechpalme mit ihren sattgrün glänzenden Blättern, hat sich angesiedelt. Eine Kette verschließt das Tor zum Gelände, doch einer der Torflügel ist ausgehängt. In heißen Sommern könnte man an diesem Ort vielleicht verweilen.
Bei der angrenzenden vierstöckigen Großgarage kann man hier und da durch verschmutzte Scheiben, an ausgeblichenen Vorhängen vorbei in verlassene Räume im Souterrain spähen. Viel zu sehen gibt es nicht: Einige Topfpflanzen, ein paar Möbel, auf dem Fußboden eine Addiermaschine. An der Nordseite, der Front zur Wadzeckstraße, steht groß der Schriftzug „Auto – Parkhaus – Service“; die Buchstaben A, P und S daneben fügen sich zur kantigen Kontur eines PKWs aus der Zeit um 1970. Eine Leuchtschrift war das früher, doch ein Teil der Röhren fehlt, der Rest bleibt nachts dunkel. An der Außenwand bröckelt der Beton, liegt Armierungsstahl frei; grüne Netze sind an manchen Stellen darüber gespannt. Hell beleuchtet und wohlerhalten ist nur die Einfahrt. Wie ein Überbleibsel archaischer Kultur wirkt dieses Parkhaus zwischen den Bauten ringsum.
Nahebei, wo die Wadzeck- in die Liebknechtstraße mündet, gab es noch einen Spielplatz, eine jener normierten Anlagen, die in den Siebzigern wohl zur Grundausstattung der Neubauviertel gehörten: eine Tischtennisplatte, zwei Mülltulpen, drei Bänke, auch sie alle aus Beton bis auf die hölzernen Sitzstreben, von denen die meisten irgendwann zu Bruch gegangen waren. Tischtennis spielen habe ich dort nie jemanden gesehen, überhaupt habe ich höchst selten nur jemanden dort gesehen. Flaschenscherben und ein paar Kronkorken lagen herum. Die Anlage verschwand jetzt zusammen mit dem Plattenbau daneben. Vor ein paar Jahren hatte ich sie fotografieren wollen, hatte eine Serie „DDR-Spielplätze heute“ geplant – melancholisch stimmende Bilder wären das wahrscheinlich geworden, Bilder, die vom Scheitern einer guten Absicht erzählt hätten. Aber die Suche erschien mir dann zu mühsam.
Schräg gegenüber dem Parkhaus, auf der anderen Seite der Wadzeckstraße, gerät zuletzt eine Rarität in den Blick: Eines jener Polizeiwachhäuschen, wie sie einst an vielen Orten der DDR-Hauptstadt zu finden waren, inzwischen vielleicht das letzte seiner Art. Es steht, unbesetzt natürlich, neben der Zufahrt zum Hof hinter dem einstigen ADN-Gebäude: Gut zwei Meter in der Länge, einen in der Breite, schräges Dach, große Fenster rundum. Allerlei Schalter und Sicherungen sind im Inneren zu sehen, dazu der Dienststuhl des Wachhabenden und in der Ecke ein alter Handfeger. Die Leuchtröhren über den zwei Fenstern zur Einfahrt hin sind, um das Nutzlose mit dem Absurden zu krönen, bei Dunkelheit in Betrieb. Ein angenehmer Arbeitsplatz war diese Zelle sicherlich nicht; in heißen Sommern muss sie, trotz Jalousien, ein wahrer Schwitzkasten gewesen sein. Doch Wachsamkeit war ein immerwährendes Gebot der Stunde und neben dem Arbeitseifer und dem Gehorsam, meist „Disziplin“ genannt, angeblich eine der Haupttugenden des sozialistischen Revolutionärs.
Was soll nun werden aus alledem? In seiner jetzigen Gestalt wird dieses Ensemble wohl kaum noch lange bestehen können. Schon ist gleich um die Ecke, hinter dem Haus des Reisens, ein mächtiger Rohbau fertig geworden, den Parkplatz daneben will man  trotz der Proteste etlicher Anwohner, der „Hinterhofverhinderer“, gleichfalls bebauen, und ein Ende der Bauwut ist nicht abzusehen. Vielleicht kann man es unter Denkmalschutz stellen? Doch fände ich es schade, würde man es musealisieren, mit Hinweisschildern und erläuternden Tafeln versehen. Hier sollte etwas bleiben, das es zu entdecken gilt.