15. Jahrgang | Nummer 5 | 5. März 2012

„Mit mir nicht!“ – Abschied von Thomas Langhoff

von Reinhard Wengierek

„Soll er ein gesundes, kräftiges Symbol sein für die Freiheit und glückliche Zukunft, die wir uns alle wiedererobern wollen.“ Klingt nach Flugblatt, nach Fanfare. Ein gellend pathetischer Ton, den der große deutsche Schauspieler Alexander Granach da anschlägt in seinem Glückwunsch zum 8. April 1938 an die „liebe Renate“ in Zürich. Denn die hat endlich ein Kind geboren: Thomas.
Doch das lang ersehnte Glück fällt in schwere Zeit. Die Eltern Renate und Wolfgang Langhoff sind Flüchtlinge aus Nazideutschland. Er war Theaterstar in Düsseldorf, aber auch prominenter kommunistischer Parteiaktivist, der nach dem Reichstagsbrand von der Bühne weg 13 Monate lang in KZ-Haft kam (sein Erinnerungsbuch ein Weltbestseller: „Die Moorsoldaten“); sie beendete mit der Heirat ihre Karriere. In der Schweiz fanden beide Schutz. Und Wolfgang fand wieder Arbeit im anderen, im freien deutschen Theater, im legendären Emigrantenzentrum Zürcher Schauspielhaus. Eine vergleichsweise luxuriöse Situation: Dreieinhalb-Zimmer Wohnung plus Küche, intensive Kunstproduktion bei halbwegs ordentlicher Gage für Wolfgang; doch beständig bedroht von innen (Abschiebung) wie von außen (deutsche Invasion). Ein Wartezustand zwischen Bangen und Hoffen auf Befreiung. Doch für Thomas das reine Kinderglück aus Bircher Müsli, Toblerone in einem herrlich unbeschwerten, fürsorglich abgeschirmten Musennest. „Ich dachte als Knirps schon mal, Goethe sei mein Großvater oder irgendein anderer Verwandter; Goethe gehörte zur Familie“, erinnert sich Thomas.
Frühling 1945; Befreiung: Vater Langhoff hängte glückselig ein Stalin-Bild ins Wohnzimmer. Rückkehr nach Düsseldorf, um dort den kaputten Theaterbetrieb neu zu installieren. Kurz danach der hochoffiziöse Ruf aus Ostberlin, die Intendanz des Deutschen Theaters (DT) zu übernehmen. Der Rest der Familie verlässt Toblerone-Land im „Adler“-Automobil mit einer generösen Fränkli-Spende als Abschiedsgeschenk sowie mit reichlich Emmentaler Käse im Gepäck. Und folgt dem jetzt staatswichtig gewordenen Papa ins sowjetzonale Ruinenland.
Auch hier eine Art Ghetto. Diesmal bevölkert mit weltberühmten Re-Emigranten wie Brecht (der Thomas die „erste echte“ Jeans schenkte), wie Dessau, Eisler, Seghers. Und wieder – diesmal absolut! ‑ luxuriös: Villa mit Auto, Fahrer, Telefon, Kühlschrank, Hausangestellten. Als zu Stalins 73. Geburtstag am 21. Dezember 1952 in der DDR die TV-Versuchssendungen begannen, besaß man einen der ersten von weniger als hundert Fernsehern.
Die Langhoffs zählten zur roten Nomenklatura. Und hingen wiederum im Zustand zwischen Bangen und Hoffen: Diesmal, dass eine Parteidiktatur ein freies, selbstbestimmtes Leben zunichte mache. Sie machte! Sie zernichtete schließlich Granachs euphorischen Wunsch zu Thomas Langhoffs Geburt. Der inzwischen Halbwüchsige, gesegnet und gefoltert mit unbestechlichem Realitätssinn, spürte gerade im elitären Kokon schon früh den grauenvollen Widerspruch zwischen kommunistischem Schein und Sein. „Das Furchtbare war, dass der verfluchte Stalinismus in Gestalt des Antifaschismus über uns kam.“
Im realen, seine hehren Ideale verratenden Sozialismus regierten Lüge, Opportunismus, Verfolgung. Trotzdem: Für den blindwütig den Kommunismus mit der Seele suchenden Vater, der in 17 nervenzerreibenden Jahren zwischen erniedrigender Subordination und „ketzerischem“ Einsatz für Wahrhaftigkeit und Realismus dem altehrwürdigen DT seinen Ruhm zurück gab, für den verstört verehrten Vater hatte die Partei immer Recht. „Auch wenn in schwierigen Situationen für die ‚große Sache‘ mal einer zerquetscht wird.“
Zerquetscht, das Wort war „ein Schock“ für Thomas. „Es fiel daheim im Salon unterm Kronleuchter.“ Schließlich wurde auch sein Vater zerquetscht vom stalinistischen Räderwerk. Bruder Matthias ging später in den Westen, derweil Thomas sich an den Vorsatz klammerte: „Mit mir nicht!“ Den er tapfer durchstand; aber darauf bedacht, es nicht zum Äußersten kommen zu lassen (Gefängnis wie Thomas Brasch, Ausbürgerung wie Wolf Biermann). „Ich beschritt eine Dissidentenlaufbahn auf mittlerem bis unterem Niveau.“
Das Skrupulöse, das sture Mit-mir-nicht, die tiefe, verzweifelt „gelernte“ Empathie für große, tragische Konflikte, das macht ihn, den „festgelegte Menschenbilder anwiderten“, künstlerisch produktiv. Freilich als Spätentwickler. T.L. fing an als Schauspieler in der Provinz, versuchte sich dort als Regisseur. Und ließ das sofort wieder sein nach einem einschneidenden Desaster: Sein Vater stampfte eine „Clavigo“-Inszenierung derart vernichtend in den Boden, dass er für lange Zeit überhaupt nicht mehr Theater konnte und in ein tiefes Loch fiel. Viel später erst wich er tastend aus ins DDR-Fernsehen. Dort gelangen ‑ für ihn selbst überraschend – subtile und dabei bildmächtige Kammerspiele in ganz eigener Tonlage. Dennoch traute sich Thomas erst wieder Ende der neunzehnhundertsiebziger Jahre, im 40. Lebensjahr und gut ein Jahrzehnt nach dem Tod des „Übervaters“, an Theater-Regie. Und avancierte mit seelengenauen Exegesen vornehmlich klassischer Texte zum Regiestar, der alsbald gefeiert wurde als großer Könner einer sensiblen, wie neu klingenden Lakonie. Sein Vorbild: Das jeder Wortsilbe nachlauschende Theater des Fritz Kortner.
T.L. wurde in beiden Deutschlands zum bestaunten und geliebten „Altmeister“ eines erfrischend gegenwärtigen, von jedwedem Musealen befreiten literarischen Theaters. Das Etikett „Traditionalist“ trug er mit Stolz. „Tradition muss man täglich neu füllen. Ich liebe diese Tradition. Und ich liebe Schauspieler, die immer ein Stück Natur behalten haben, die bei sich und ihrem Geheimnis bleiben. Und nicht aufgehen in irgendeinem Figurendasein.“
Mit dieser Liebe und dem Widerwillen gegenüber allem Dressierten und Demonstrativen übernahm er 1991 die Intendanz des einst vom Vater geführten DT. Nachdem er im Berliner Gorki-Theater mit Volker Brauns Tschechow-Adaption „Die Übergangsgesellschaft“ bereits 1988 den Untergang der DDR überwältigend feinfühlig vor-geführt hatte.
Noch einmal und für kurze Zeit vermochte dieser kreativ Konservative das sagenumwobene DT-Ensemble (und obendrein Großbetriebe in München oder Wien) zum Leuchten zu bringen. Bis das DT allmählich in Selbstgefälligkeit erstarrte. Und Langhoff 2001 dessen Leitung vorzeitig aufgeben musste. Eine Wunde, die bis zum Schluss schwärte.
Auch schwand seine künstlerische Akzeptanz gegen Ende der 1990er Jahre im Zeitalter theatralischer Dekonstruktion, die er zwar tolerierte, die aber „nicht seins“ war. Dennoch beförderte Langhoff demonstrativ einen ästhetischen Pluralismus an „seinem“ Haus. Mit Regisseuren wie Jürgen Gosch, Heiner Müller, Frank Castorf, Einar Schleef, Thomas Ostermeier.
Nach seiner von einer eifernden Hauptstadt-Kulturpolitik brutal vollzogenen Amtsenthebung folgte die von der Last des Intendanten-Amts befreite Abenddämmerung eines, so er selbst, „Sonnenkindgemüts“, dem doch auf lange Zeit das Glück beschert war, auf dem Parnass zu wandeln. Also Dämmerung mit schönen, feinen oder auch bloß hübschen Spät-Spielen nunmehr im Musiktheater, in München, Zürich, am Burgtheater sowie besonders im Berliner Ensemble (BE), wo ihm Claus Peymann die gelassene Entfaltung eines End-Spiels ermöglichte ‑ zuletzt mit Strindberg und noch einmal mit Tschechow: „Der Kirschgarten“.
Deshalb auch die Totenfeier für den am 8. Februar verstorbenen Erben Max Reinhardts in Peymanns Theater am Schiffbauerdamm. Das DT schaffte es gerade noch kurz vor Thomas Langhoffs Tod, ihm die Ehrenmitgliedschaft anzutragen.
Der Brecht-Platz vorm BE quillt über von Menschengewimmel ganz in schwarz. Von oben, vom Riesenplakat an der Fassade, grüßt beiläufig und dabei wie entrückt und in sich versunken T.L. Ganz in weiß, den Pullover lässig über die Schulter geworfen. Ein privater Schnappschuss. Doch auch ein treffliches Bild von diesem so faszinierenden, heutzutage so selten gewordenen Großkünstler der Beiläufigkeit. Und obendrein war es Signum für das überaus lebendige, herzensinnige, von jeglicher Schwermut enthobene öffentliche Gedenken.
So hatte er sich das wohl auch vorgestellt, für den die Kunst immer ein helles Spiel war mit der dunklen Todesnähe des Lebens. Das Schöne und Schlimme stets durcheinander, das faszinierte ihn, das trieb ihn um. Und daraus band ein weiter Kreis von Kollegen und Freunden – allesamt Stars des deutschsprachigen Schauspielbetriebs – „ihrem Tommy“ einen üppigen Kranz aus lustigen oder auch wehen Erinnerungen, Probenanekdoten („zielgerichteter Tumult“) und natürlich Szenen „seiner“ Stücke.
Noch einmal huschen Tschechows drei Schwestern aus dem Gorki-Theater anno 1988 vorüber (Schönfeld, Lennartz, Werner: „Aber wir müssen leben, leben, leben!“). Noch einmal wütet Gert Voss mit Thomas Bernhard gegen die Kunst („Ich vertrage sie nicht!“) und gegen den hässlich-herrlichen Theaterstaub (Wiener Burgtheater anno 2002). Tolle Momente; zum Lachen wie zum Heulen. Dazwischen tönen ernstlich und tröstlich Schiller, Goethe, Brecht, Hölderlin, radelt Thomas durch München und Berlin (Video), zirpt die Manzel das Liedlein vom kleinen bisschen Glück, das es irgendwo gibt auf der Welt ‑ und das Langhoff, wenn auch ziemlich spät, doch fand. Und das er scheinbar leichthin und unversehens ins ganz Große schob, was schließlich auch ihn groß machte nach – weggesteckt! – schwerer Quälerei mit dem geliebten Elternhaus, dem DDR-Kunst- und Politikbetrieb.
„Vielleicht kann die Welt überleben“, sagte der lange schon mit Krankheit Geschlagene. „Aber das setzt das gewisse ‚Mit mir nicht!‘ voraus.“ ‑ Ach, er war, bei aller Zartheit, ein „gesundes, kräftiges“ Symbol der Freiheit. Deshalb für uns und ganz in seinem Sinn: Alle Fanfaren auf Zukunftsglück!
„Ich hab‘ eine Neigung zur Treue“, bekannte er gelegentlich. Dafür hat er zuweilen bitter bezahlt. Dafür wurde er aber auch und noch einmal jetzt am Grab reich beschenkt von tout Theaterdeutschland (weniger war nicht angereist, ihn zu feiern). In ihm stecke glücklicherweise die ewige Lust, ungetrübt mit Todesangst umzugehen, bekannte er am Ende. Dementsprechend seine Kunst. Und sein Lieblingsspruch: „Aus die Maus.“