15. Jahrgang | Nummer 6 | 19. März 2012

Eine Kritik der politischen Ökonomie

von Heerke Hummel

Deutschland, Europa und die Weltgemeinschaft der Völker stehen an einem Scheideweg. Der soziale Friede in Gestalt der Demokratie ist in höchstem Maße gefährdet. Anlass für Heiner Flassbeck, sich in seinem Buch „Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“ für ein ökonomisches Umdenken, für die Überwindung der herrschenden Ideologie des Neoliberalismus, einzusetzen. Das ideologische Trommelfeuer einer übergroßen Mehrheit der Ökonomen habe in den letzten vier Jahrzehnten ein falsches, eben neoliberales „Weltbild“ zur Herrschaft in der Volkswirtschaftslehre gebracht. Und die Versuche, darüber aufzuklären, dürften nicht aufgegeben werden – auch wenn, beziehungsweise gerade weil, die auf ihre Exportüberschüsse so stolzen deutschen Politiker und Unternehmer das System nicht verstanden haben und sich damit abfinden werden müssen, ihre Marktanteile wieder zu verringern, wenn der Euro aus der Krise gebracht werden soll.
Flassbeck stellt die Betrachtungsweise ökonomischer Prozesse wieder vom Kopf auf die Beine, indem er den sachlichen Beziehungen das Primat einräumt, ihnen die Geld- und Finanzbeziehungen unterordnet und so Ökonomie – auch für den ökonomischen Laien – wieder verständlich macht. Das ist notwendig, weil letztlich alle Produktion, alles Arbeiten dazu dienen soll, Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Gerade durch diese Umkehr, die Unterordnung der Finanzen, kann das Geld wieder zu einem Steuerungsinstrument der Politik werden, um sachliche ökonomische Strukturen, seien es die Umwelt und die natürlichen Ressourcen oder neue Technologien, das Arbeitsvermögen und die Einkommensverteilung bis hin zu den Rentensystemen betreffend, zu steuern. Die Märkte, insbesondere der Finanzmarkt, steuern nicht. Sie desorientieren, weil sie nicht denken und die komplizierten ökonomischen Zusammenhänge weder analysieren noch berücksichtigen, sondern sich eindimensional mit der grenzenlosen Vermehrung des abstrakten Reichtums in Gestalt von Finanzwerten begnügen. Sie befriedigen nur ein einziges – vollkommen abstraktes – Bedürfnis der Besitzer: Reichtum in seiner finanziellen Erscheinungsform zu vermehren. Und sei dieser Schein auch noch so trügerisch, fern aller Realität! Die Finanzblasen der aktuellen Krise belegen dies.
Der Staat, sagt Flassbeck, ließ sich systematisch aus seiner Steuerungsfunktion hinausdrängen, um sich mit der Schaffung scheinbar günstiger Rahmenbedingungen für die Kapitalverwertung zu begnügen – mit verheerenden praktischen Folgen aus volkswirtschaftlicher Sicht. Der frühere Staatssekretär denkt und argumentiert praktisch-sachbezogen, eben volkswirtschaftlich, doch keineswegs naturalwirtschaftlich in des Wortes gelegentlich diffamierend gebrauchter Bedeutung. Seine Analysen, Fragestellungen und Antworten können auch als eine praktische Volkswirtschaftslehre angesehen werden und sind allen ökonomisch Interessierten, insbesondere allen in einer ökonomischen Ausbildung Befindlichen, zur Lektüre dringend zu empfehlen. Denn auch wer „nur“ betriebswirtschaftliche Strategien und Entscheidungen zu entwickeln beziehungsweise zu treffen hat, muss deren Einordnung ins volks- und weltwirtschaftliche Ganze verstehen. Wirtschaften heißt nämlich nicht nur Produzieren. Es bedeutet auch Konsumieren und beides im Reproduktionsprozess durch Handel zu verbinden. Und Handel besteht nicht nur im Verkaufen, sondern gleichermaßen im Kaufen. Beides muss sich die Waage halten. Doch gerade dies gewährleisten die Märkte mit ihrem gnadenlosen Konkurrenzkampf um Leben oder Tod allein von sich aus schon lange nicht mehr. Heiner Flassbeck weist das präzise nach und wirft der Wissenschaft, der Wirtschaft (vor allem der Finanzwirtschaft) und der Politik, parteiübergreifend von rechts bis links, Unverständnis und gravierende Fehlentscheidungen vor. Er kritisiert den „heiligen“ Freihandel, den falschen Preis, den falschen Lohn, den falschen Wechselkurs, den falschen Zins, das falsche Sparen, das Versagen der Ordnungspolitik, den Wettbewerb als Dogma. Und er tut das sehr anschaulich und verständlich. Der Zauberspruch einer Marktwirtschaft heißt bei ihm nicht „jeder gegen jeden“, „sondern ‚einheitlicher Preis für ein und dasselbe Gut, sei es nun Arbeit, ein Produktionsmaterial, ein Rohstoff oder Kapital‘. … Nur diese Regel, stur angewendet zum Beispiel auch mittels des Flächentarifvertrags für Arbeit der gleichen Qualität, verhindert, dass sich Arbeitnehmer untereinander oder Firmen gegenseitig in Grund und Boden konkurrieren durch Preisunterbietungskämpfe, die durch keinerlei technologischen Fortschritt gespeist sind, oder dass einzelne Berufsgruppen ihre Marktmacht missbrauchen und für sich mehr heraus holen als die durchschnittliche Produktivitätssteigerung in der gesamten Volkswirtschaft“(gestattet).
Im Abschnitt „Die angemessenen Antworten“ zeigt Flassbeck, wie im 21. Jahrhundert den ökonomischen, ökologischen und politischen Herausforderungen, vor die sich die Menschheit gestellt sieht, begegnet werden kann. Insbesondere macht er deutlich, dass und wie die Spekulation auf allen Märkten zu unterbinden ist. Damit unser Planet geordnet und friedlich bewirtschaftet werden kann, müsse eine Teilhabe aller Menschen am gemeinsam erarbeiteten Fortschritt ermöglicht und der Wettkampf der Nationen beendet werden. Nur so sei die natürliche Welt zu retten. Dazu bedürfe es einer neuen nationalen und internationalen Politik.
Für den Fall, dass es nicht gelingt, eine solche durch und im Verlaufe eines allgemeinen Umdenkungsprozesses in Gang zu setzen, warnt Heiner Flassbeck vor größten Gefahren für die Demokratie und den sozialen Frieden. Grundlegend falsch und politisch töricht sei es, in der schwierigen Situation Europas die Schuldfrage zu stellen. „Wer der simplen Vorstellung folgt, die Schuldfrage sei klar und Länder ließen sich wie Unternehmen oder ein Privathaushalt sanieren, riskiert das Ende der europäischen Integration“, so Flassbeck. Als objektiver Beobachter, der die sachlichen Zusammenhänge durchschaut und dargelegt hat, mahnt er vor allem die Wahrnehmung der Verantwortung der starken Mächte, insbesondere Deutschlandlands, an. Denn in Berlin werde „offenbar immer noch nicht zur Kenntnis genommen, dass eine Variante, bei der ein Land seine Wettbewerbsfähigkeit und seine Marktanteile vollständig erhält oder gar weiter ausbaut, nicht denkbar ist.“ Noch gebe es eine kleine konkrete Chance für die europäische Politik zu verhindern, dass Europa politisch und wirtschaftlich zerbricht. Deutschland müsse sich dazu aber jetzt bereit erklären, im Verein mit den Partnerländern einen Prozess in Gang zu setzen, der den anderen Ländern in den nächsten zehn Jahren eine Möglichkeit gibt, ihre außenwirtschaftliche Position zu konsolidieren und ihre Staatshaushalte zu stabilisieren. Entscheidend dafür sei die Bereitschaft der Bundesregierung, in Gesprächen mit Gewerkschaften und Arbeitgebern auf nationaler Ebene und im makroökonomischen Dialog auf europäischer Ebene alles dafür zu tun, dass sich die Lücke in den Lohnstückkosten im Euroraum über einen Zeitraum von zehn Jahren schließt. Nur wenn den Mitgliedern der Europäischen Währungsunion, den Mitgliedstaaten in der Europäischen Union und dem Rest der Welt auf diese Weise vorgeführt wird, dass Europa in der Lage ist, auch mit dieser Krise konstruktiv umzugehen, habe die europäische Idee eine Chance. Ohne diesen Weg werde ein Rückfall in antieuropäische oder gar nationalistische Tendenzen nicht zu verhindern sein.
Zwei Jahre sind bereits vergangen, seitdem der nicht gerade unbekannte Fachmann und erfahrene Praktiker auf dem Gebiet der internationalen Wirtschaftsbeziehungen dies veröffentlicht hat. Und doch hat sich, obgleich er auch danach ständig mit Vorträgen für die Vernunft stritt, in der Realpolitik – auch Deutschlands – nichts verändert. Erschreckend angesichts der dramatischen aktuellen Lage!

Heiner Flassbeck: Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts, Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2010, 242 Seiten, 22,95 Euro