15. Jahrgang | Nummer 3 | 6. Februar 2012

Heymkehr?

Nach dem hundertsten Todestag des Dichters Georg Heym

von Gunnar Decker

Zukunft verheißt und Zukunft droht. Das ist die Grundstimmung der von Kurt Pinthus 1920 herausgegebenen Sammlung expressionistischer Autoren. „Menschheitsdämmerung“ heißt sie – und wieder wissen wir nicht, was hier dämmert, der Morgen oder der Abend? 23 Autoren sind versammelt, Jakob van Hoddis unter ihnen, Dichter des „Weltende“-Gedichts, der im gleichen Jahr wie Heym verstummte – 1912 begann sein endloser Weg durch die Irrenanstalten. Paul Zech trieb die Flucht vor den Nazis bis ins Exil nach Argentinien, hier war er eine zeitlang Hausierer, er starb 1946 in Buenos Aires. Georg Trakl nahm sich im November 1914 mit einer Überdosis Drogen das Leben – er bekam die Bilder der Schlacht bei Grodek nicht aus dem Kopf. Ernst Stadler und August Stramm fielen an der Front. Franz Werfel, Gottfried Benn, Johannes R. Becher und Else Lasker-Schüler hatten noch einen langen Gang über die Gräber vor sich.
Geschrieben sind diese sehr oft apokalyptischen Texte vor dem ersten Weltkrieg – und doch ist es bereits die Perspektive des Danach, die besonders bei Georg Heym verblüfft. „Nach der Schlacht“ heißt eines seiner berühmtesten Gedichte, das mit den Zeilen endet: „Im kühlen Winde friert noch das Gewimmer / Von Sterbenden, da des Osten Tore / Ein blasser Glanz erscheint, ein grüner Schimmer, / Das dünne Band der flüchtigen Aurore.“
Es gibt auch von der DDR-Rockgruppe „Renft“ ein Lied „Nach der Schlacht“, darin heißt es schlicht: „Nach der Schlacht sind die grünen Wiesen rot.“ Welch paradoxes Zugleich von zukunftssüchtiger Verzweiflung am Jetzt! Wir blicken in beidem auf ein Jahrhundert Katastrophengeschichte zurück, entsprungen aus jener Metapher, die Chaplin zum Zentrum seines Films „Moderne Zeiten“ erhob. Die Maschinenwelt beherrscht uns. Und das, wo der Großstadtbewohner des beginnenden 20. Jahrhunderts sich, über die Hilfgeister Elektrizität (Licht!) und motorengetriebene Geschwindigkeit gebietend, bereits gottgleich vorkam. Ein Irrtum, einem Verhängnis gleichkommend. Denn schnell zeigt sich dieses Neue, die rasende Technik, in all ihrer gefangennehmenden mythischen Gewalt.
Ein zweite Archaik ist geboren. Man geht an den Anfang der Ausdruckswelt zurück, um selber einen Anfang zu machen zu können. Ist das primitiv? Nein, es ist auf naturhaft-schlichte Weise kraftvoll.
Der Expressionismus betrat vor hundert Jahren mit fiebernder Erregung das dünne Eis monarchischer Verhältnisse von gestern. So wie Heym am 16. Januar 1912 das Eis der Havel, das ihn nicht trug. Sein Tod beim Eislaufen war ein Unfall, gewiss. Aber die bis auf den Grund hinabtauchende Verachtung, mit der er die heile Oberfläche der Verhältnisse durchbrach, hatte etwas Notwendiges.
Das Ende einer Vorkriegsordnung ist ausgerufen, und sei es im „Neopathetischen Cabaret“, in dem Georg Heym (trotz seines Sendungsbewusstseins ein schlecht Vortragender: er stottert), jener „flüchtigen Aurore“ aus „Nach der Schlacht“ nachsinnt, die zugleich angesichts des Schreckens flüchtet und sich nur (immerhin: doch!) flüchtig zeigt. Heym sammelt dabei die Zerstörungsenergien inmitten der Lethargie des Bestehenden, wenn er notiert: „Geschehe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut … Dieser Friede ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, einen Kaiser, der sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte. Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllen, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollen.“
Heute, hundert Jahre nach seinem Tod, frage ich mich oft, was wohl aus Heym geworden wäre, hätte er älter werden dürfen. Vielleicht hilft ein Blick auf die anderen Autoren der „Menschheitsdämmerung“. Nicht wenige verschlang jene Gottheit Krieg, die viele der Expressionisten anbeteten – und fürchteten zugleich. Diejenigen, die den Krieg überlebten, radikalisierten sich oft politisch auf diametral entgegenstehende Weise – der Rundfunkdisput von Becher mit Benn von 1930 gibt über diese Frontstellung Auskunft. Im Alter waren sie beide Melancholiker, der Dichter des „Poetischen Prinzips“ ebenso wie der des „Radardenkers“. Das vereinte sie am Ende über alle politischen Unterschiede hinweg: von der Politik enttäuscht zu sein.
Ins Exil führte der Weg bei der einen Gruppe von den Nazis verfolgter Autoren; in die Illusion, es mit dem Expressionismus – wie Marinetti mit seinem Futurismus im faschistischen Italien unter Mussolini – auch in Nazideutschland zur Staatskunst bringen zu können, bei der anderen. Wiederum – siehe Benn – ein schwerer Irrtum, in mehrfacher Hinsicht.
Der Expressionismus als bildmächtiger Zertrümmerer überlebter Verhältnisse lässt beides zu, den Weg nach links und nach rechts, inklusive späterer Standort-Revisionen. Hermann Hesse las 1960 die gerade bei Ellermann erschienenen Tagebücher Heyms und war mehr abgestoßen als fasziniert. Der habe Glück gehabt, dass er so früh gestorben sei, der sei zum Nazi prädestiniert gewesen mit seinem Hang zu Uniformen und Barrikaden, und Goethe nenne er immer nur „Goethe das Schwein“. Dennoch sei manches an ihm eindrucksvoll. Hesse als Literaturdeuter ist eben – selbst wenn er sich wie hier unangenehm berührt zeigt – eine eigene Spielklasse: immer fair.
Fakt ist, die großen Buchstaben, die schrille Selbstreklame, die man bei Heym findet, sie haben in der Massenkultur auf banale Weise Karriere gemacht bis hin zu jener Boulevardzeitung, die zwar keine echten Bilder in unserem Kopf zu produzieren vermag, aber diese darum um so greller zu vermarkten trachtet. Hat der Expressionismus mit seinem Lautsprechergestus Schuld daran? Nein, denn bei ihm sind die Themen echt. Der Unterschied ist immer der zwischen Kunst und Kommerz: Tod, Schmerz, Zukunft, Liebe, Verwesung – all das sind die Themen eines in Übergangsperioden auftretenden bildüberladenen Barocks, der bis an die Wurzeln des Menschseins geht, mit seinem Stirb und Werde.
Heym, der in Avantgardekreisen mit seinen Gedicht-Bänden „Der ewige Tag“ von 1911 und dem Nachlassband „Umbra vitae“ unsterblich wurde, hatte mit seinen Stücken (über siebenhundert Seiten im Nachlass!) und seiner Prosa weniger Glück. Den Stücken ist kaum zu helfen, sie wurden auch nie gespielt, ihr epigonaler PseudoSchiller-Ton lässt verwundert fragen, ob dies derselbe Autor sei wie der der explosionsartig auftrumpfenden Gedichte. Ja, er ist es – und glaubt zugleich mit seiner Historienmalerei an eine Zukunft als Dramatiker. Da täuscht sich einer über seine wahre Berufung.
Seine Prosa, im schmalen Nachlass-Band „Der Dieb“ versammelt, reißt dafür um so rücksichtsloser jene Kulissen ein, die sich für die Welt halten. Ein surreales Nachlauschen der neuen Dimension von Katastrophen (des Untergangs der Titanic vor ebenfalls hundert Jahren!), die der Fortschritt erst möglich macht: welterschütternd und legendenstiftend, neue Mythen produzierend.
Da lesen wir in „Das Tagebuch Shakletons“, ein Jahr vor seinem Tod geschrieben: „Man untersuche sie nur einmal genauer, man meißle ihnen ihre Schädel auf!“ Das klingt so, wie es Georg Büchner in „Dantons Tod“ forderte: man breche den Menschen die Schädeldecke auf, damit man ihnen direkt ins Hirn schauen kann. Das heißt, den Erkenntnistrieb bis ins Verbrecherische treiben!
Bei Heym, der großartige Gedichte über die Französische Revolution schrieb und sich zum Barrikadenkämpfer empor träumte, ist doch immer eine unübersehbare Verachtung der Masse zu spüren, in der er die Meute auf dem Sprung erblickt – eine Perspektive, die fast so wirkt, als sei sie bereits durch eine lange entillusionierende Mediengeschichte hindurch gegangen.
Es ist falsch zu sagen, Georg Heym, der das Neue so unbedingt wollte und dann doch immer Untergangsszenarien ausmalte, habe keinen Sinn für die Geschichte besessen. Die Art, wie er auf die Große Französische Revolution zustürzt etwa, offenbart seinen ungeheuren Erkenntnishunger ebenso nach vorwärts wie nach rückwärts. Was ist an ihr echt und was ist bloß Talmi?, so lautet dabei immer die Frage.
Es ist eben jenes Thema, das Thomas Brasch zu einem Außenseiter machte, in Ost ebenso wie in West und auch später im wiedervereinigten OstWestland. Er schuf mit seinem Georg-Heym-Stück „Lieber Georg“ ein Selbstporträt mitten im Generationenkampf. Die Väter sind ihm Repräsentanten einer überkommenen Ordnung, gegen die die Rebellion eine Frage der Selbstachtung ist. Wie Heym seinen Vater, einen Militärstaatsanwalt, so überzog auch Brasch den seinen (stellvertretender DDR-Kulturminister immerhin) mit Hassliebe. Es bleibt dabei die Lebenschiffre eines anderen Expressionisten, Georg Trakl, der vom „unlebbaren Leben“ sprach. Übergänge, die nicht stattfinden, münden statt dessen in Untergänge. Man kann hier auch mit Hegel vom „unglücklichen Bewusstsein“ sprechen.
Manfred Karge hatte „Lieber Georg“ 1980 in Bochum inszeniert. Nun, an Heyms hundertstem Todestag hatte in seiner Regie am Berliner Ensemble Heyms „Faust“-Fragment Premiere. Der Text besteht nur aus zweieinhalb Seiten, zumeist Stichworte und kurze Notate. Der Luna-Park wird zum Milieu von Fausts Reise hin zur Nachtseite der eigenen Existenz wie auch der einer Gesellschaft, die ihrem Ende entgegen drängt. Wer das Tragische mit dem Komischen zu mischen versteht, habe ein tieferes Lebensgefühl, so notiert Heym – und so inszeniert Karge auch seine Montage aus Heym-Texten: als Groteske. Ein Guckkasten, in dem sich die Perspektiven vervielfältigen – sehr ansehenswert.
Wie überhaupt das Originalgenie Heym sich (ähnlich wie Brecht) vor allem im souveränen Arrangieren fremder Einflüsse erweist. Manchmal wirkt er wie der deutsche Bruder Rimbauds, auch als Anwendungsfall von Baudelaires „Blumen des Bösen“ – jedoch ist es immer sein Spiel, ein so nicht kopierbarer blutiger Karneval, mitunter die Todestravestie eines Lebensanfängers.
Gehört Georg Heym nun zu der Mehrzahl jener 23 Autoren der „Menschheitsdämmerung“, die immer unaufhaltsamer in Vergessenheit geraten? Das muss nicht zwangsläufig sein, es sind erfreulicherweise gar nicht so wenige, die an einer „Heymkehr“ arbeiten. Kürzlich war ich mit einer Heym-Lesung am Theater Stendal und bemühte mich umwegreich, eine Brücke für den Berlin-Moloch-Dichter in die Altmark zu bauen. Den kennen wir doch hier schon lange, bekam ich zur Antwort, schließlich war es ein Stendaler, Albrecht Franke, der 1983 das Buch „Letzte Wanderung“ über expressionistische Dichter-Leben und Dichter-Tode herausbrachte. Ein immer noch empfehlenswertes Buch.
Und dann bekam ich Besuch von Wolfgang Becker aus Düsseldorf, dem Kopf der – je nachdem – Deutschrockband oder Deutschbluesband „Schwarzbrenner“. Die macht seit fünfzehn Jahren ausschließlich Musik nach Texten von Georg Heym. Wie kommt ein Rheinländer ausgerechnet zu Georg Heym, fragte ich ihn, als er mir die Jubiläums-Doppel-CD „Heymkehr“ schenkte. Schuld, so Becker, war 1980 ein Verwandtenbesuch in Ostberlin. Dort fand er in einem Buchladen ein schmales Reclambändchen mit einem Ernst-Ludwig-Kirchner-Holzschnitt auf dem Titelblatt, die berühmte Heym-Gedichtauswahl von Stephan Hermlin mit einem hinreißenden Nachwort.
Diese erste Begegnung hatte Fernwirkungen, nicht nur für „Schwarzbrenner“. Wenn man sich die deutsch-deutsche Vereinigungsgeschichte öfter einmal so vorstellen könnte, müsste man zum Optimisten werden.

Von Gunnar Decker ist im Verlag für Berlin-Brandenburg soeben die Biographie „Georg Heym – ´Ich, ein zerrissenes Meer´“, 19,90 Euro, erschienen.