15. Jahrgang | Nummer 2 | 23. Januar 2012

Lebensgierige Untergangsvisionen

von Wolfgang Brauer

„Alles in allem waren die Gedichte Georg Heyms die besten, die ich an diesem Abend hörte.“ So endet eine Besprechung des zweiten Vortragsabends des „Neopathetischen Cabarets“ Kurt Hillers und Erwin Loewensons am 6. Juli 1910 im „Papierhaus“ in der Dessauer Straße 2 in Berlin. Geschrieben hatte diese Lobeshymne auf den damals noch unbekannten Dichter Heym Georg Heym selbst. Er hatte Recht. Und er hatte auch Recht damit, sich in einer Reihe zu sehen mit Kleist, Grabbe, Hölderlin, Büchner, Rimbaud und Marlowe. Das taten andere zwar auch, Georg Heym aber mit besonderer Berechtigung. „… daß dieser Heym seit Georg Büchner die stärkste dichterische Begabung der Deutschen war, und daß er unter den Dichtern seiner Generation an visionärer Seherkraft und sicher packendem Griff, an Fülle der heranströmenden Bilder und Weite des düster-feurigen Umblicks nicht seinesgleichen hatte“, scheute sich (so seine eigenen Worte) 1922 Kurt Pinthus, der Herausgeber der wohl immer noch gültigsten Anthologie des expressionistischen Jahrzehnts, der „Menschheitsdämmerung“, nicht zu sagen.
Gunnar Decker legte nun eine Biographie des Dichters vor. Er nennt sie vorsichtshalber „biographischer Essay“. Heym wurde nur 24 Jahre alt, er ertrank vor einhundert Jahren am 16. Januar 1912 bei Eislaufen in der Havel. Und so zerrissen seine Gefühlslandschaften auch waren, die äußere Hülle dieses kurzen Lebenslaufes bietet trotz dieses tragischen Todes wenig Spektakuläres. Decker nähert sich ihm behutsam. Wohl wissend, dass die Gefahr, das Werk vom Ende des Dichters her in einer nebulösen Wolke transzendenten Übersinns zu verklären, riesig ist. Scheinbar allgegenwärtig sind in ihm die Leichen ertrunkener Menschen. Übermächtig die Suggestivkraft eines im Sommer 1910 von Georg Heym aufgeschriebenen und seitdem in kaum einem Text über den Dichter – auch Gunnar Decker kann ihn sich nicht verkneifen – nicht zitierten Ertrinkungstraumes. Dennoch, der Autor vollbringt, was nur wenigen Biographen gelingt. Er entzieht sich der Verführung, in einen gerade in seiner Banalität und wohl auch dem realen Verlaufe fürchterlichen Tod symbolhafte Bedeutung zu legen. Selbstverständlich zitiert er das zweiteilige „Ophelia“-Gedicht des Jahres 1910 – allerdings um eine behutsame Interpretation des Textes in eine tiefschürfende Betrachtung der Gewichtigkeit mystischen Denkens dieses Dichtens einzubetten. Die langen Linien deutscher Poesietraditionen werden sichtbar: „Gryphius erwacht wieder … der Vanitas-Ton hat eine neue Heimstatt gefunden: in Georg Heyms lebensgierigen Untergangsvisionen.“
Das Nachspüren dieses scheinbar Gegensätzlichen – man halte der „Ophelia“ „Deine Wimpern, die langen“ vom Juni 1911 entgegen! –, das Aufdecken der schiefergleichen Schichten der Heymschen Poesie erweist sich als Methode, die zu faszinierenden Entdeckungen führt. Das ist für die Eröffnung eines Zuganges zum Dichter fruchtbarer als die – Decker ignoriert dieses mitnichten – weitschweifige Exegese des Vater-Sohn-Konfliktes („Ich wäre einer der größten Dichter geworden, wenn ich nicht einen solchen schweinernen Vater gehabt hätte…“) oder ein druckbogenbreites Auswälzen der Negativerfahrungen deutscher Provinzstädte (Neuruppin, sein gymnasialer Verbannungsort, die „Lumpenstadt“, das „Klein-Sibirien“). Der Moloch Großstadt erfährt keine freundlichere Betrachtung. Decker nennt den Erstlingsband „Der ewige Tag“ (1911) eine „große Verfluchung der Stadt Berlin“.
Aber das allein wäre zu einfach. Auch hier wieder die Liebe zur Schönheit im Grausigen: „Die Tote im Wasser“ (1910). „Der Stadtnacht Spülicht treibt / Wie eine weiße Haut im Strom…“ – Gunnar Decker meint zu diesem großartigen und oft fehlinterpretierten Text, dass noch nie „die schmutzige Poesie der Großstadt so sinnlich präsent gewesen“ sei, wie in diesem Gedicht aus „Der ewige Tag“, übrigens dem einzigen zu Lebzeiten des Dichters erschienenen Buche. Den Titel des berühmt gewordenen Nachlassbandes „Umbra vitae“ übersetzt Decker etwas gewagt, aber wohl begründet mit „Nachthelle“. Seine Erzählung der Entstehungsgeschichte dieses Buches – ebenso wie die der postum erschienenen Novellensammlung „Der Dieb“ – ist eine Hommage an den Verleger Ernst Rowohlt, ohne den Heyms Nachlass wohl der Vernichtung anheim gefallen wäre.
Moderne Existenz sei „unreine Existenz“, meint der Autor des Essays angesichts der Heymschen Entdeckung der Großstadt, „eine Mischung aus schier unvereinbaren Gegensätzen“. Mit der „Unreinheit“ scheint Decker es mir etwas zu übertreiben, das Leichenschauhaus, die Morgue, die Abgründe von Mord und Siechtum, Krankheit und Tod, Hoffnungslosigkeit und apokalyptischen Visionen waren aber Gemeingut dieser jungen Dichtergeneration, die man sich die „expressionistische“ zu nennen angewöhnt hat. Gottfried Benn, über den Decker 2006 eine lesenswerte Biographie vorgelegt hatte, war im Alter verwundert, seine Gedichte in der „Menschheitsdämmerung“ vorzufinden. Dessen Antipode Johannes R. Becher rieb sich sein Lebtag lang an der eigenen poetischen Herkunft. Die über weite Strecken furchtbare Hymnik des Alterswerkes des Letzteren wird nur verständlich, wenn man die faszinierenden Gedichte des Jünglings kennt. Das Schlusskapitel des Deckerschen Essays nennt sich denn auch – man reibt verwundert die Augen, gilt der Poet doch gemeinhin als der deutsche Dichter, der die Tür in das „expressionistische Jahrzehnt“ aufgestoßen habe – „Georg Heym, der Expressionist?“
Gemein war diesen jungen Dichtern auch ein Endzeitbewusstsein sondergleichen, „die Angst davor, dass über das eigene Ende hinaus das Ende der Welt gekommen sein könnte“, wie Decker schreibt. „Weltende“ heißt das berühmteste Gedicht des Konkurrenten Jakob van Hoddis. Auch die in vergleichsweise streng gebundener Form (für die Porträtgedichte aus der Zeit der Französischen Revolution wählte er das Sonett) geschriebenen apokalyptischen Visionen Heyms sehnen förmlich Untergang ebenso herbei, wie sie sich vor ihm fürchten. Georg Heym musste das in realiter nicht mehr erleben. Er starb zwei Jahre vor dem blutigen Untergang seiner Generation. Hier ist mein einziger heftiger Widerspruch zu Gunnar Decker anzubringen: Die „Ästhetik des Schreckens“, die der Autor in Ernst Jüngers „Stahlgewittern“ sieht, stünde „bei Georg Heym noch im Stand der Unschuld vor uns“. Nein, ich denke, mit blutgierigen Landsknechtstypen hatte Heym nichts gemein. Decker liefert selbst die biographischen Belege.
Aber das ist eher marginal. Lassen Sie sich getrost von diesem Autoren auf dem Wege durch die verschlungenen Dickichte der Dichtung Georg Heyms an die Hand nehmen. Sie werden schöne Entdeckungen machen und zu guter Lektüre angestoßen werden. Im Unterschied zu manch anderen Biographen, die sich an Dichtern versuchen, versteht Gunnar Decker etwas vom Geheimnis der Gedichte und er liebt die Poesie.

Gunnar Decker: Georg Heym „Ich, ein zerrissenes Meer“. Ein biographischer Essay, verlag für berlin-brandenburg, Berlin 2011, 176 S., 19,95 Euro.