14. Jahrgang | Sonderausgabe | 5. Dezember 2011

Zur Anatomie eines Machtstaates

von Hans-Peter Götz

Wer Verschwörungstheorien, zumal um 9/11, liebt, der wird beim neuen Greiner nicht auf seine Kosten kommen. Der Autor ist kein Anhänger derselben und setzt sich in der vorliegenden Schrift auch nicht groß mit ihnen auseinander. Sein Fazit zum Ereignis selbst lautet knapp und nüchtern: „Erst durch eine tragische Verquickung von Unwahrscheinlichkeiten wurde der 11. September 2001 zu ‚9/11’.“
Trotzdem fehlt es dem Buch nicht an thrillerartigen Zügen. Das gilt zum Beispiel für die Darstellung der Vorgänge, wie 9/11 von bestimmten Kräften in der US-Regierung als einer der Hebel benutzt wurde, um den Irak-Krieg vom Zaun zu brechen, obwohl es selbst aus der amerikanischen Geheimdienst-Community keine belastbaren Belege für eine Verbindung des irakischen Regimes zu den Drahtziehern der Anschläge vom 11. September, zu Al-Qaida, gab. Treibende Kräfte waren vor allem der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und sein Stellvertreter Paul Wolfowitz; Greiner zitiert den seinerzeitigen „Nationalen Koordinator für Sicherheit, Infrastrukturschutz und Anti-Terrorismus“, Richard Clarke: Mir wurde „auf fast körperliche Art schmerzhaft bewusst, dass Rumsfeld und […] Wolfowitz es darauf angelegt hatten, mittels dieser nationalen Tragödie ihre Irak-Agenda durchzusetzen“.
Dabei zeigte sich zugleich eine geradezu pathologische Unfähigkeit der US-Fühung um den damaligen Präsidenten George W. Bush, mit Verhaltensweisen aus dem Kalten Krieg zu brechen und Konfliktlösung mit anderen Mitteln als denen der militärischen Gewalt zu betreiben. Dazu Greiner: „Die Überbewertung des Militärs und militärischer Konfliktlösung, die Demons­tration von Macht um der Beglaubigung der Macht willen, die symbolische Inszenierung von Glaubwürdigkeit und Entschlos­senheit, die strikte Trennung der Welt in Gut und Böse, schwarz und weiß, frei und unterdrückt, die Reduktion von Politik auf ein Freund-Feind-Verhältnis und die Verstetigung des Ausnahmezu­stands, schließlich das Spiel mit der Unberechenbarkeit – all diese Koordinaten des Kalten Krieges wurden unter George W. Bush zu Leitlinien der Anti-Terrorpolitik. […] Und erneut machte die berühmte Metapher von der Lernunfähigkeit rüstungsfixierter Gesellschaften die Runde: Wer nichts anderes zur Verfügung hat als einen Hammer, behandelt jedes Problem wie einen Nagel.“
Einen maßgeblichen Teil seines Buches – und auch diese Passagen lesen sich wie ein Politkrimi – widmet der Autor Degenerationsprozessen der amerikanischen Staatsarchitektur, die sich über Jahrzehnte vollzogen haben und in deren Konsequenz sich die USA von einem Rechtsstaat in Gestalt einer parlamentarisch verfassten bürgerlichen Präsidialdemokratie zu einem, wie Greiner es nennt, Machtstaat gewandelt haben, der undemokratische, autoritäre Züge trägt. Exemplarisch dafür war George W. Bushs Credo: „Ich entscheide, was für die Exekutive Gesetz ist.“ Ins Französische übersetzt hieße das ja wohl: „L’etat, ce moi.“
Greiner zeichnet diese Entwicklung gewohnt fakten- wie kenntnisreich nach sowie mit der analytischen Schärfe eines Seziermessers. Er verweist dabei darauf, dass in den USA Bestrebungen, die Zuständigkeiten und Machtbefugnisse der Exekutive, insbesondere des Präsidenten, zulasten der Legislative (und der Judikative) immer mehr auszuweiten, ja ihr – zumindest im außen- und sicherheitspolitischen Bereich praktisch ein Machtmonopol mit alleiniger Entscheidungsbefugnis zu verschaffen, bis in die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreichen. Bereits der erste US-Präsident nach dem Zweiten Weltkrieg, Harry S. Truman, konnte in seiner Amtszeit so weit gehen, dem Senat zwar 145 Verträge mit Drittstaaten vorzulegen, ihn aber von 1.300 auszuschließen – darunter so strategischen wie Vereinbarungen über Militärstützpunkte und Kernwaffendepots. Und vom ersten Golfkrieg abgesehen, wurde zwischen 1980 und 2000 für keine einzige Militärintervention die Zustimmung der Legislative mehr eingeholt. Unter Bush jr. und betrieben insbesondere von dessen Vizepräsidenten Richard Cheney erreichte diese Entwicklung einen Höhepunkt, den Greiner dahingehend charakterisiert: „Aus der in der Verfassung als unhintergehbar charakterisierten Gewaltenteilung ist mittlerweile eine Kann-Bestimmung geworden.“ Das ist, so kann ergänzt werden, üblicherweise ein Wesenszug von totalitären Staaten und Bananenrepubliken.
Aber seit Barack Obama und seinem „Yes We Can!“ wird alles besser? Da genügt ein Blick auf Afghanistan. Greiner wirft ihn und stellt fest, dass auch Obamas Krieg dort „ein Krieg jenseits von Kriegs- und Völkerrecht“ ist. Auch der Friedensnobelpreisträger Obama „hat der CIA und den Spezialeinheiten der Streitkräfte eine Lizenz zum Töten auf Verdacht ausgestellt – mittels unbemannter Drohnen“, die ferngesteuert zuschlagen und immer wieder auch das Leben von Frauen und Kindern auslöschen. 60 solche Angriffe hatte Bush jr. in acht Amtsjahren befohlen. Bei Obama waren es bereits im Oktober 2010 120.
Bernd Greiner beendete die Einleitung seines Buches im Januar 2011 mit dem Verweis auf die „Tatsache, dass der ‚Krieg gegen den Terror’ die Wahrscheinlichkeit künftiger Anschläge nicht reduziert, sondern erhöht hat“.

Bernd Greiner: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen, Verlag C. H. Beck, München 2011, 280 Seiten, 19,95 Euro