14. Jahrgang | Nummer 26 | 26. Dezember 2011

Die Wege des Jünglings: Der homosexuelle Städter im frühmodernen Japan

von Sandra Beyer

Als der Dichter Saikaku Ihara (1642-93) den „Großen Spiegel der Männerliebe” 1687 schrieb, kannte er die Interessen seiner Klientel gut. Er wusste, dass er Geschichte und Liebe zwischen Buchdeckel packen musste, um nur von der Feder leben zu können. Die chônin (Stadtmenschen), für die Männer wie er über Lust, Tod und Verlangen berichteten, waren Handwerker und Händler, die ihr Geld in den Bordellen, Teehäusern und Theatern der Hauptstadt Kyoto, in Naniwa (Osaka) und Edo (Tokyo) ausgaben.
Die Verlegung des Regierungssitzes von Kyoto weiter noch Nordosten 1603 sollte die Militärregierung aus dem Einflussbereich der kaiserlichen Familie und der buddhistischen Klöster führen. Loyale Samuraifamilien erhielten Land um Edo, verdächtige oder als unzuverlässig erachtete wohnten entfernter vom Shogunatssitz. Ein System aus staatlicher Geiselnahme und Erpressung, das sogenannte Sankinkôtai-System, zwang die Ehefrauen und unverheirateten Kinder der Provinzfürsten, in den Mauern Edos in für ihren Stand angemessenen Schlössern zu leben. In regelmäßigen Abständen residierten die Daimyos selbst in der Stadt. Die Verbindung zwischen den beiden Hauptstädten wurde stark bewacht, um keine Frauen unerlaubt aus und keine Männer unerlaubt nach Edo zu lassen. Herbergen boten neben leiblichen auch körperliche Annehmlichkeiten. Die Abwesenheit von Frauen einer bestimmten Schicht auf dem Land dagegen förderte Männergesellschaften, die Loyalität und Zugehörigkeit sexuell festigten.
Die Abschließung des Landes gegen das christliche Ausland, das begonnen hatte, sich nach Asien auszudehnen, führte nach innen zu einer zweihundertfünfzigjährigen Friedenszeit, in welcher die Kriegerklasse ihre militärische Daseinsberechtigung verlor. Ihre politische Aufgabe verschob sich in die Administration. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie aus festgelegten Stipendien aus Reis. Aus Holland und China durften nur Luxusartikel importiert werden, die vor allem für das Shogunat bestimmt waren. Die frühmoderne Wirtschaft der Edo-Zeit war somit auf den Binnenmarkt beschränkt. Das wiederum ließ die Stadtbevölkerung ökonomisch erstarken, die sich auf den Handel mit Reis und Gütern an die Krieger spezialisiert hatten. Selbst die mächtigen Samurai wurden im 18. Jahrhundert von den gesellschaftlich niedrigen Städtern abhängig. Um die besonders im 17. Jahrhundert mit ihrer neuen Rolle unzufriedenen Samurai zu besänftigen, sah die Regierung in die andere Richtung, wenn es um den Besuch von nichtlizensierten Bordellen und Teehäusern für Knaben ging. Die Beziehung zu männlichen Angehörigen des eigenen Haushaltes wurde als Bruderschaft bezeichnet. Heterosexuelle außereheliche Beziehungen und Bordellbesuche wurden dagegen streng überwacht und mit Strafen belegt.
Die Städter kompensierten ihren mangelnden politischen Einfluss mit kultureller Einflussnahme. Sie kauften Bücher wie die von Ihara, aus denen sie die Geheimnisse der Leben der Samurai erfahren wollten oder über die Intrigen und Liebeleien der Theater lesen konnten. Geschichten über die Vergänglichkeit der Welt in Lust und Leid erfreuten sich besonderer Beliebtheit. Die Texte thematisieren die Liebe zu Männern gleichermaßen wie zu Frauen. Der Kodex der Samurai Hagakure (1710-1716) wurde für ein solches städtisches Publikum geschrieben. Denn die Städter versuchten, der Kriegerklasse nachzueifern. Sexualität und Sex wurden für sie eine Ware, die sie sich kaufen konnten. Ihre Knabenliebe, shudô genannt, verlegten sie endgültig in die Bordelle und Teehäuser.
Warnungen vor der Lust an Jungen betrafen die sozialen Konsequenzen. Dekrete gegen Vergnügungsviertel als Ort der sozialen Unruhe gab es in der gesamten Edo-Zeit. Während die Verbrüderung der Samurai gefördert wurde, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken, wurden die Ausschweifungen der Mönche als unmoralisch gegeißelt, da sie sexueller Natur waren. Argumente gegen homosexuelles Begehren wie deren Unnatürlichkeit oder die medizinischen Auswirkungen von Analverkehr auf die Beteiligten wurden Männern nur vorgehalten, damit sie ihren gesellschaftlichen Pflichten als Haupt der Familie nachkamen. Heterosexuelle Ehen schlossen jedoch homosexuelle Beziehungen in der Öffentlichkeit nicht aus. So gab es zwar drakonische Strafen im direkten Zusammenhang mit männlicher Homosexualität, doch wurden diese gegen den Bruch von Verträgen und Verbrechen aus Leidenschaft ausgesprochen. Denn die Beziehung von Männern folgte festgelegten Regeln, basierend erst auf Alter, dann auf sozialem Status. Geschlechtliche Rollenverteilungen von aktiv/passiv wurden nicht aufgehoben, ohne jedoch die Stigmatisierung von stark/schwach zu kennen. Eine Beziehung bedurfte eines Älteren und eines Jungen oder Jünglings, der die Initiation zum Erwachsenen durch die Rasur der Seitenlocken und dem Haupthaar noch vor sich hatte. Sexuelle Kontakte zwischen erwachsenen Männern oder Gleichaltrigen verletzten dagegen das konfuzianische Senioritätsprinzip. Das führte in einer lebenslangen Beziehung dazu, dass einer der Partner äußerlich immer ein Junge blieb. Schauspieler des traditionellen Kabukitheaters mussten sich unabhängig vom Alter das Haupthaar scheren, um für die Knabenliebe und die damit verbundene Prostitution unerreichbar zu sein. Auf Bildern dieser Zeit tragen sie deswegen ein lila Tuch, das sie als Schauspieler kennzeichnete. Das Alter und damit die Verfügbarkeit als Sexualpartner wurden dadurch jedoch wieder verschleiert.
Unter den Samurai wurden Beziehungen durch einen Schwur oder einen Vertrag geregelt, welcher die sexuellen und ökonomischen Ansprüche festlegte. Ein Bruch führte zu Verbannung der Liebenden oder sogar zu Todesurteilen, da sie nach konfuzianischer Vorstellung ihren Gehorsamspflichten gegenüber dem Älteren oder dem sozial Höherstehenden nicht erfüllt hatten. Geheimhaltung dieser Beziehungen, wie sie oft in den Erzählungen der Zeit vorkommt, heißt also, dass die Liebenden anderen verpflichtet waren, nicht, dass homosexuelles Begehren versteckt werden musste. Auch das Auftauchen eines Nebenbuhlers konnte in die Tragödie führen, wenn er durch einen Liebesbrief seinen Anspruch auf den Jüngeren erhob. Nicht selten kam es noch im 18. Jahrhundert zum Duell aus verletzter Ehre des Abgewiesenen. Als äußerstes Zeichen der Liebe galt die eigene Verstümmlung. Erzählungen, in denen der Jüngling den Nebenbuhler um die eigene Gunst duellierte und dabei selbst umkam, erfreuten sich besonderer Beliebtheit.
Diesen Idealen einer reinen Knabenliebe, die sich vor allem sexuell ausdrückte, wollten die Bewohner der Städte nacheifern. Auf der Bühne sahen sie sie, in ihrem Leben hing die Erfüllung mit der Größe des Geldbeutels zusammen. Die Viertel der männlichen Prostitution nahmen Anfang des 19. Jahrhunderts ab, als auch die ökonomische Situation der Bevölkerung sich insgesamt verschlechterte. Die Samurai hatten ihren Platz in der zivilen Verwaltung gefunden, in welcher sie auch nach der Öffnung des Landes meist verblieben. Jungen arbeiteten nicht mehr in Bordellen, sondern verkauften als Ladenjungen oder Straßenverkäufer Düfte. Lange blieb das Essenzengeschäft mit der Prostitution verbunden. Die professionelle Knabenliebe war nicht mehr öffentlich sichtbar, doch die ersten Diplomaten und Missionare nach 1853 sahen die unchristliche Unkeuschheit genau. Gerade gegen diese „Unmoral“ und deren Auswirkungen auf den modernen Staat gingen die westlichen Lehrer und später die Regierungen in Tokyo vor. Die Knabenliebe verlor ihre soziale Funktion. Ab 1872 wurden Obszönitäten strafrechtlich verfolgt. Eine einheitliche Gesetzgebung und staatliche Verfolgung männlichen homosexuellen Begehrens wie in Deutschland hat es in Japan jedoch nicht gegeben.