14. Jahrgang | Nummer 23 | 14. November 2011

Mühsams Tagebücher

von Wolfgang Brauer

Es gibt Autoren, deren Persönlichkeit und Biografie fast vollständig hinter ihrem Werk verschwinden. Dann gibt es Dichter, deren Werk fast vollständig vom Schatten der eigenen Biografie verdeckt scheint. Genau genommen auch nur von Teilen der Biografie. Bei Erich Mühsam, diesem Urbild eines Poeten, ist dies der Fall. Befragen Sie sich selbst: Ich vermute, auch Sie denken bei der Erwähnung des Namens Mühsam zuallererst an das furchtbare Ende, das ihm vertierte Faschisten am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg bereiteten. Darüber wurde viel geschrieben. Das gab die Grundfarbe der Mühsam-Rezeption in der DDR ab. Der 1978 im Buchverlag Der Morgen erschienene Band „Färbt ein weißes Blütenblatt sich rot“ legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Mühsam verschweigen ging nicht. Sich auf seine Biografie auf eine Weise einzulassen, wie es dieser große deutsche Autor des 20. Jahrhunderts verdient hätte, hätte allerdings im wahrsten Sinne des Wortes so manche Leiche im Keller der Geschichte des realen Sozialismus aufgedeckt. Das betraf auch das Verhältnis der offiziellen Geschichtsschreibung der DDR zur bayerischen Räterepublik, die man – ebenso wie ihre Protagonisten – mit einer gewissen Distanz betrachtete. Stattdessen buhlte man zeitweise um die Gunst so dubioser Gestalten wie Ernst Niekisch, der in seiner faschistischen Phase Menschen wie Gustav Landauer, Ernst Toller und Erich Mühsam als „Revolutionswanzen“ denunzierte. Ein klassisches Verhaltensmuster manch linker Bewegungen, das uns hier begegnet. Wer sich nicht stromlinienförmig der jeweils führenden Parteiung unterwirft, wird von dieser heftiger befehdet als der tatsächliche politische Gegner
Im Umgang mit dem Anarchismus und seinen führenden Vertretern galt und gilt dies allemal. Selbst das Prinzip der Sippenhaft begegnet einem in solchen Fällen: Kreszentia („Zenzl“) Mühsam, die Witwe des Dichters, flüchtete 1935 in die Sowjetunion, übergab das gerettete Werk ihres Mannes dem Maxim-Gorki-Institut für internationale Literatur, durfte noch die Handschriften erschließen helfen, mit großer Wahrscheinlichkeit auch für den KGB – und verschwand dann viele Jahre im Archipel GULAG, ehe sie 1954 in die DDR ausreisen durfte. Und hier wurde ihr selbst die Aushändigung der Mikrofilme des von ihr geretteten Werkes durch die Akademie der Künste – die Originale liegen nach wie vor in Moskauer Archiven – verweigert… Dass Mühsams Werk dennoch lebendig blieb, ist auch Menschen wie den Verlagsleuten F.A. Hünich und Chris Hirte zu danken. Wie schwierig dies war, zeigt allein der Umgang mit Hünichs Begleit-Text einer ersten Werkauswahl aus dem Jahre 1958. Der wurde in der zweiten Auflage 1961 durch eine Kommentierung Dieter Schillers ersetzt. Und Schiller geißelte mit Lenins Worten den Anarchismus als „umgestülpte bürgerliche Weltanschauung“. Aber immerhin konnte Chris Hirte nach 1980 mit Unterstützung des DDR-Kulturministeriums die Tagebücher Erich Mühsams auf der Grundlage der Mikrofiches übertragen.
Seit kurzem liegt nun der erste Band einer ambitionierten Gesamtausgabe vor. Bis zum Herbst 2018 will der Berliner Verbrecher Verlag insgesamt 15 Bände dieses Jahrhundertwerkes veröffentlichen. Als Herausgeber zeichnen Chris Hirte und der Informatiker Conrad Piens verantwortlich. Dieses auf den ersten Blick seltsam anmutende Herausgeber-Duo hat etwas mit der Struktur der Ausgabe zu tun. Der erste Band zum Beispiel umfasst die Manuskripthefte 1, 5 und 6 – Mühsam beschrieb diese in der Zeit vom 22. August 1910 bis zum 17. Oktober 1911 (drei Hefte sind verschollen): Die gut lesbar gestaltete, mit einem Lesebändchen versehene Ausgabe – passend in schwarzes Leinen gebunden – hat keinerlei Anmerkungsapparat. Der ist über das Internet zu finden, in das Hirte und Piens den gesamten Text inklusive der Handschrift eingestellt haben. Die Anmerkungen sind dort über das Register erschließbar, das vielfach mit WIKIPEDIA verlinkt ist.
Kulturgeschichtlich weniger kundigen Lesern macht das die Lektüre schwer. Wer kennt sich heute noch mit der Münchener Bohème der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg aus? Und Mühsam trägt mit bewundernswerter Disziplin alles, aber auch alles ein, was ihm im Laufe seines Tages so alles widerfuhr. Der Bogen spannt sich von Überlegungen zur großen Politik über künstlerische Erlebnisse und Erfahrungen – es finden sich fein ziselierte Feuilletons zum Theaterleben jener Jahre in diesen Texten, er war seinerzeit Bewunderer Max Reinhardts und zumindest Trinkkumpan Lion Feuchtwangers und Frank Wedekinds – bis hin zu intimsten Details des Mühsam’schen Sex-Lebens. Nun mag man die Geschichte einer Tripperinfektion nicht für so wesentlich halten, das Nachverfolgen der Affären des Dichters sagt denn doch einiges über die Situation der Frauen in dieser Szene. Man erfährt so manches über die Schwierigkeiten, mit denen diese zu tun bekamen, wenn sie versuchten, in einer tradiert patriarchalischen Männergesellschaft, auch Erich Mühsam ist gegen entsprechende Arroganzanfälle nicht gefeit, ihren eigenen Weg zu gehen. Emmy Hennings, die „blonde Muse“ Johannes R. Bechers, oder die Puppengestalterin Lotte Pritzel, „das Puma“ im Tagebuch, seien da nur beispielhaft genannt. Das alles erschließt sich aber nur, wenn man nachschlagen kann. Also keine Lektüre für lange Waldspaziergänge – möglichst noch in einem Funkloch – oder den Strand.
Eine lohnende Lektüre aber allemal! Wer wissen will, wie quasi aus dem Prototyp eines Bohèmiens geradezu zwangsläufig ein revolutionärer Anarchist werden musste, der kommt um diese Tagebücher nicht herum. Wer um ein tieferes Verständnis der deutschen Gesellschaft zweier prägender Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bemüht ist auch nicht. Wir sind gespannt auf die nächsten Bände und wir wünschen dem Verbrecher Verlag einen langen Atem und der Rosa-Luxemburg-Stiftung – die bislang eine Unterstützung dieser Edition ablehnte –, dass sie sich endlich einen Ruck gibt und dem Projekt helfend unter die Arme greift. Und vielleicht gelingt es auch, die wahrscheinlich noch in Moskau befindlichen Manuskript-Hefte der Jahre 1917 bis 1918 aufzutreiben. Es wird kein Zufall sein, dass ausgerechnet diese seinerzeit der Akademie der Künste der DDR nicht übergeben worden sind.

Erich Mühsam, Tagebücher Band 1/1910 – 1911. Herausgegeben von Chris Hirte und Conrad Piens, Verbrecher Verlag, Berlin 2011, 352 Seiten, 28,00 Euro. Die notwendige Website: www.muehsam-tagebuch.de.