14. Jahrgang | Nummer 24 | 28. November 2011

Klassenkampf light

von Hans-Peter Götz

Neues Deutschland, 15. Oktober 2011: „Der Bezirk Marzahn-Hellersdorf beherbergt […] das wohl größte deutsche Archiv der Presse des 20. Jahrhunderts. An das Zentrum für Kultur- und Zeitgeschichte (ZfK) in der Premnitzer Straße 12 wurde der überwiegende Teil der Sammlungen des ehemaligen Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) der DDR übergeben. Die in 8.887 Kisten verpackten Dokumente, die eine Länge von 1.600 Metern ergeben, waren mit Hilfe der Bundeswehr vom letzten Eigentümer, dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, hierher gebracht worden. Kleinere Bereiche des IPW-Archivs, dessen Bestände seit der zweiten Hälfte der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts zusammengetragen und bis kurz nach der Wende 1990 geführt wurden, gingen an das Iberoamerikanische Institut und an eine Bundeswehreinrichtung in Strausberg. Einige wesentliche Teile, vor allem aus dem ökonomischen Bereich, die die Verflechtung von Politik und Wirtschaft in der BRD betrafen, […] wurden von interessierter Seite ‚makuliert’, wie es im Fachjargon heißt. Zu den wichtigsten Aufgabenbereichen des IPW gehörten Imperialismus- und Friedens-Forschung sowie BRD-Analyse […]. Ausgewertet wurden damals bis zu 82 Presseorgane aus der BRD und Westberlin.“
Das legendäre Zeitungsausschnittarchiv des IPW, das seinerzeit seinen Standort unweit des Brandenburger Tores, genauer gesagt, in mehreren Stockwerken eines auch von der Straße Unter den Linden zugänglichen Hofgebäudes in der Schadowstraße hatte und das für mich seit 1990 „verschollen“ war, existiert also noch. Den ND-Beitrag, dem die obigen Auszüge entnommen sind, mailte mir kürzlich ein guter Bekannter, der um meine IPW-Vergangenheit weiß, und die Lektüre ließ „Jugenderinnerungen“ aufleben.
Als ich im Herbst 1978 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am IPW begann, dauerte es nicht lange, bis ich bei Recherchen neben der bestens sortierten Bibliothek des Institutes auch den schier unerschöpflichen Fundus des Zeitungsausschnittarchivs kennen lernte. Der typische, unnachahmliche Geruch alter Bibliotheksbestände, der entsteht, wenn große Mengen bedruckten Papiers nur lange genug in trockenen, wenig belüfteten Räumen lagern und mit dem Staub von Jahrzehnten eine Melange eingehen, hüllte den Besucher dort in den Leseräumen ein. Ich – Bücherwurm von Kindesbeinen an – liebte dieses Aroma vom ersten Augenblick an.
Die Bestände, von deren schierer Größe ich damals nichts ahnte, waren exzellent aufbereitet. Zwar habe ich die Funktionsweise des dortigen Thesaurus nie wirklich verstanden, aber das war auch nicht nötig. Es genügte, den Mitarbeitern vor Ort einige wenige Stichworte über den Gegenstand des Interesses und den Recherche-Zeitraum zu geben, und man erhielt die betreffenden Ordner, in denen die Ausschnitte mit exakten Quellenangaben in chronologischer Reihenfolge – mit Knochenleim auf A-4-Blätter geklebt – abgeheftet waren. Danach war Handarbeit angesagt, denn Kopiertechnik gab’s keine. Was zitiert oder anderweitig verwendet werden sollte, musste überwiegend notiert werden.
Neben den Zeitungsausschnitten beherbergte das Archiv auch umfangreiche Bestände an kompletten Zeitungsjahrgängen. Und so konnten, zu streng wissenschaftlichen Zwecken, versteht sich, auch die Süddeutsche, die FAZ, die ZEIT und viele andere – monats- oder quartalsweise sorgsam zu Folianten gebunden – angefordert werden. Das war dann allerdings eine echte Versuchung, denn in dieser ungeschnittenen Form breiteten die Blätter das ganze Leben im „parasitären, faulenden und sterbenden Kapitalismus“ (Lenin) aus, und obwohl ich mich der Sache der Arbeiterklasse zutiefst verpflichtet fühlte und wusste, dass der Klassenfeind mich mittels seiner Medien zu verführen trachtete, konnte ich mich doch der Faszination des Moribunden nicht zur Gänze entziehen. Ich gestehe, ich las mich fest – nicht nur einmal; meist im Feuilleton, aber nicht nur …
Hier muss ich zum Verständnis des Folgenden zwei kurze Einschübe machen: Nach fünf Jahren Studium war ein Anfangsgehalt von etwa 700 Mark auch angesichts der niedrigen DDR-Preise für Grundnahrungsmittel (inklusive Bücher und Zeitschriften), Mieten et cetera nicht eben üppig. Beim vorangegangenen Studium waren die finanziellen Spielräume naturgemäß noch enger gewesen, und so hatte ich bereits als Student nach Möglichkeiten zur Aufbesserung meines monatlichen Budgets gesucht. Zum Kellnern und vergleichbaren studentischen Tätigkeiten fand ich nicht den rechten Zugang. So ging ich als (übertrieben) selbstbewusster Student der Außenpolitik im 3. Studienjahr zur damaligen Märkischen Volksstimme in Potsdam und bot der Abteilung Außenpolitik an, Beiträge über internationale Themen zu schreiben. Meine Voraussetzungen und die Quellenlage an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Babelsberg, meiner Alma Mater, erschienen mir dafür mehr als ausreichend. Die Kollegen von der Zeitung ließen sich versuchsweise darauf ein, und mein Antrag auf eine entsprechende Nebentätigkeit, den ich bei der Akademie weisungsgemäß stellte, wurde stante pede abgelehnt. Ein Student im 3. Studienjahr! Ich tat es trotzdem – allerdings unter einem in Anspielung auf den von Berlichingen trotzigen Pseudonym, das ich bis heute verwende: Hans-Peter Götz. Das damit verdiente Salär war zwar nicht üppig, aber es tat das Seinigen, dass nie je der Ankauf eines gewünschten Buches an zu knapper Barschaft scheiterte. Und im Laufe der Zeit ergaben sich Arbeitskontakte zu weiteren Blättern, die ich auch nach dem Studium nicht abreißen ließ.
Soweit der erste Einschub. Hinzu kam, dass ich einer Familie entstammte, in der männlicherseits ein gewisses Interesse an Automobilrennsport evident war und wo von Brauchitsch’s „Ohne Kampf kein Sieg“ zwar keine Ehren-, gleichwohl aber einen festen Platz im häuslichen Literaturbestand hatte. Dass die seinerzeitige Verfilmung durch das Fernsehen der DDR mit einem noch jugendlichen Jürgen Frohrieb in der Hauptrolle mit Spannung erwartet und genossen wurde, versteht sich vor diesem Hintergrund von selbst. Ansonsten allerdings war es mit automobilrennsportlichen Events in der DDR nicht eben weit her.
Ich weiß nicht mehr, wann ich in einem der IPW-Folianten in der Schadowstraße erstmals auf die Berichterstattung von einem Formel-1-Rennen stieß. Da ich insgesamt alles andere denn Sport affin bin, dürfte es eher ein Zufall gewesen sein, doch es geschah und brachte das frühere Interesse in mir zum Schwingen. Weitere Berichte waren schnell gefunden, und ich las mich fest. Von da bis zu der Idee, daraus etwas für die Zeitung zu machen, brauchte es nicht lange. Natürlich nicht einfach so, denn schlichte Berichterstattung über dieses bourgeoise Endzeitspektakel, das ja eher als Geschäft und Sensationshascherei denn als wirklicher Sport einzustufen war, hätte keine Zeitung in der DDR abnehmen dürfen. Aber bloße Ereignisberichte wären auch nicht meine Intention gewesen. Den Ehrgeiz, die Richtigkeit des Leninschen Diktums selbst an diesem Beispiel zu zeigen, den hatte ich schon. Also knappste ich im Archiv etwas regelmäßiger Zeit ab, suchte Ziel gerichtet, wurde fündig und schrieb schließlich eine mehrteilige Serie über die damals nicht eben seltenen Unfälle und Katastrophen in der Formel 1. Eine Folge zum Beispiel behandelte das Rennen von Monza im September 1961, wo der Pilot Wolfgang Graf Berghe von Trips 15 Menschen mit in den Tod riss und zahllose weitere verletzte. Vor dem Hintergrund solcher Ereignisse war die Schlussfolgerung ja keineswegs abwegig, dass da Menschenleben – von Fahrern wie Zuschauern – vor allem aus pekuniären Gründen immer wieder aufs Spiel gesetzt wurden.
Dieser boulevardeske journalistische Ausflug blieb allerdings mein einziger. Die BZ am Abend, in der späten DDR meines Wissens die einzige Abend- und Straßenverkaufszeitung, nahm die dokumentarische Serie zwar an und publizierte sie – unter dem Titel: „Der Tod fährt mit“, als ich jedoch den auch kommerziellen Erfolg mit einer weiteren Serie („Der Tod fliegt mit“) verstetigen wollte, unterband die Pressestelle der Interflug die Veröffentlichung. Ich hatte nicht zur Genüge bedacht, dass auch sozialistisches Fluggerät hin und wieder dazu neigte … Doch dieser Misserfolg gereichte mir zum Besten, denn ich blieb hernach auf jene wichtigen seriösen Themen fokussiert, zu denen ich mich bis heute gelegentlich zu Wort melde.