14. Jahrgang | Nummer 21 | 17. Oktober 2011

Zu dieser Justiz und Presse

von Ferdinand Lassalle*

Was das Schicksal Deines Prozesses anlangt,. so wundert mich nur, daß Du Dich einigermaßen darüber gewundert zu haben scheinst! Vielleicht erinnerst Du Dich jetzt des Briefes, den ich Dir gleich anfänglich inbezug auf Deine Absicht zu klagen schrieb, und bist jetzt weniger verwundert über denselben als damals. Du schreibst, nun wüßtest Du, daß es von den Richtern abhängt bei uns, ob es ein Individuum überhaupt nur bis zum Prozesse bringen kann! Lieber, was habe ich Dir neulich einmal unrecht getan, als ich, in einem meiner Briefe sagte, daß Du zu schwarz siehst! Ich schlage ganz reuig an meine Brust und nehme das gänzlich zurück. Die preußische Justiz wenigstens scheinst Du bisher in einem noch viel zu rosigen Licht betrachtet zu haben! Da habe ich noch ganz andre Erfahrungen an diesen Burschen gemacht, noch ganz anders starke Beweise·für diesen Satz und noch ganz anders starke Fälle überhaupt an ihnen erlebt, und zwar zu dreimal drei Dutzenden und in Straf- wie besonders sogar in reinen Zivilprozessen Dinge erlebt, über die wahrscheinlich Dein Justizrat,’ wenn er sie erführe, nicht nur die Hände, sondern, wie mir dies selbst ergangen, auch die Beine sogar vor Verwunderung über dem Kopf zusammenschlagen würde!
Uf! Ich muß die Erinnerung daran ·gewaltsam unterdrücken. Denn wenn ich an diesen zehnjährigen täglichen Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert es mir wie Blutwellen vor den Augen, und es ist mir, als ob mich ein Wutstrom ersticken wollte. Nun, ich habe das alles lange bewältigt und niedergelegt, es ist Zeit genug seitdem verflossen, um kalt darüber zu werden, aber nie wölbt sich meine Lippe zu einem Lächeln tieferer Verachtung, als wenn ich von Richter und Recht bei uns sprechen höre. Galeerensträflinge scheinen mir sehr ehrenwerte Leute im Verhältnis zu. unsern Richtern zu sein. Nun aber, Du wirst sie fassen dafür, schreibst Du! „Jedenfalls“, sagst Du, „liefern mir ‘die Preußen so ein Material in die Hand, dessen angenehme Folgen in der londoner Presse sie bald merken soIlen!“ Nein, lieber Freund, sie werden gar nichts merken. Zwar zweifle ich nicht, daß Du sie in der londoner Presse darstellen und vernichten wirst. Aber merken werden sie nichts davon, gar nichts, es wird sein, als wenn Du gar nicht geschrieben hättest. Denn englische Blätter liest man bei uns nicht, und, siehst Du, von unsern deutschen Zeitungen wird auch keine einzige davon Notiz nehmen, keine einzige auch nur ein armseliges Wörtchen davon bringen! Sie werden sich hüten! Und unsre liberalen Blätter am allermeisten. Wo werden denn diese Kalbsköpfe ein Wörtchen gegen ihr heiligstes Palladium, den „preußischern Richterstand“ bringen, bei dessen bloßer Erwähnung sie vor Entzücken, schnalzen – sie sprechen schon das Wort nie anders als mit zwei Pausbacken aus – und vor Respekt mit gern Kopf auf die Erde schlagen! Oh, gar nichts werden sie davon bringen, es von der Donau bis zum Rhein und so weit sonst nur immer die „deutsche Zunge reicht“ ruhig totschweigen! Was ist gegen diese Preßverschwörung zu machen? Oh, unsre Polizei ist, man sage was man will, noch immer ein viel liberaleres Institut als unsre Presse! Es ist – hilf Himmel! ich weißwirklich keinen andern Ausdruck für sie – es ist die reine Scheiße!

* – Aus einem Brief an Karl Marx.

Aus: Die Weltbühne, Nr. 29 / 1922