14. Jahrgang | Nummer 16 | 8. August 2011

Abschied von der Tradition in Bayreuth

von Ulrike Krenzlin

Die Premiere der diesjährigen Bayreuther Festspiele fiel auf Richard Wagners Große Romantische Oper Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Die anspruchsvolle Aufgabe ist dem vierzigjährigen Opernregisseur Sebastian Baumgarten zugefallen, der in Bayreuth auf Veränderungen drängt. Dazu nahm er sich ein Team, mit dem er es in Gänze auf Provokation anlegte. Die Inszenierung wurde dramatisch ausgebuht.
Ursprünglich wollte das Premieren-Team grundsätzlicher vorgehen und auch den alten Festspielrahmen sprengen, zu dem die fünf- und mehrstündigen Aufführungen gehören, mit Pausen von je einer Stunde. Beabsichtigt war eine „sehr dichte, durchgehende Aufführung von zweieinhalb Stunden“ (Joep van Lieshout), heute gängige Theaterpraxis. Diese Neuerung wurde von der Festspielleitung abgelehnt. Denn im Festspielhaus auf dem Grünen Hügel mit seinen – nach Art antiker Arenen angeordneten – 1900 Plätzen treffen sich wie immer die Großen der Welt, abgeschirmt durch Polizeiketten und Sicherheitspersonal. Zu den Geladenen gehörten Bundeskanzlerin Angela Merkel, Außenminister Guido Westerwelle, die europäische politische Prominenz, der Präsident der Europäischen Zentralbank Jean-Claude Trichet, Schauspieler wie Veronica Ferres und Edgar Selge, vor allem aber Fürsten aus den europäischen Adelshäusern. Wo schöne Abendroben allgemein längst vergessen sind, hier waren sie aus allen Modehäusern zu sehen. Wie lange wird der Widerspruch unlösbar bleiben: Bayreuther Festspieltradition und moderne Inszenierungskunst?
Auf künstlerischer Ebene gibt es in Bayreuth keine Einrede. Sein Reduktionskonzept, drei Akte auf ein Bühnenbild zu reduzieren, konnte Sebastian Baumgarten vollkommen verwirklichen. Entscheidend dafür ist das Bühnenbild des Holländers Joep van Lieshout. Der Spitzenkünstler im Installationsgeschäft formt am laufenden Band neue Haustypen aus Fiberglas mit phantastischen, noch nie gesehenen Lebensräumen. Für „Tannhäuser“ setzt er auf die ganze Bühnenbreite einen dampfenden und tönenden Technokraten in Feuerrot, ein fauchendes Kesseltriebwerk, in dem Exkremente zu Biogas verarbeitet, aus dem wiederum Nahrung und Alkohol gewonnen werden. Was mit dem Technokraten nicht auszusagen ist, wirft Christopher Kondek als Video an die Wand. Sinnigerweise bildet die Jungfrau Maria in einer Gloriole, mit entblößten Brüsten, aber bedeckter Scham ein Standbild. Der Dramaturg Carl Hegemann versteht diese Marienversion als Kombination von „Kunst und Liebe“. Für die ursprünglich fortlaufend angelegte Inszenierung entstehen Zwangspausen. Ausgefüllt werden sie mit werkelnden Technokraten und mit einem katholischen Gottesdienst. Das Kesseltriebwerk ist zugleich der Wald, in dem Tannhäuser seine alten Sängerfreunde Wolfram, Biterolf, Reinmar von Zweter und den Landgrafen Hermann von Thüringen wieder trifft, die „edle Halle“ für den Sängerstreit auf der Wartburg und Hintergrund für den  Venusberg, der wie ein großes Käfigkarussell aus dem Wiener Prater gestaltet ist. Als Rondell kann er in den Boden versenkt werden. In der ersten und dritten Szene steigt der drehbare Käfig mit der schwangeren Venus und Tannhäuser in Unterhosen aus der Senke heraus, beide sind umwirbelt von wildesten Sexexzessen. Franck Evins Lichtregie macht aus dem Drahtkäfig eine dramatische Hexentanzszene auf dem Hörselberg.
Vor diesem aufreizenden Szenario läuft des Tannhäusers Drama original nach Wagners Dresdner Libretto von 1845 in Wort und Gesang ab. Es geht um die beiden miteinander verknüpften mittelalterlichen Sagen von Tannhäuser und dem Sängerwettstreit auf der Wartburg um 1220, beides Geschichten aus christlich-katholischer Zeit. Aus seelischer Not hat Heinrich Tannhäuser zweimal den Weg in den Hörselberg zu Venus gesucht. Bis zum Überdruss genoss er mit ihr ein enthemmtes Liebesleben. Beladen mit dem Fluch, damit sein Seelenheil für immer verloren zu haben, verlässt Tannhäuser die Geliebte. In Erinnerung an die unerfüllte Liebe zu Elisabeth, die sich auf der Wartburg in Sehnsucht nach ihm verzehrt, findet Tannhäuser zu seinen Freunden zurück. Landgraf Hermann von Thüringen lädt den Thüringer Adel ein zum Fest mit Wettstreit und Preisliedern über das Wesen der Liebe. Wild durchbricht Tannhäuser die Etikette. Jedem seiner Freunde fällt er ins Wort und preist die Liebe als erotischen Genuss. Diese Provokation führt zu seiner Verurteilung und Bestrafung mit der Auflage zum Bußgang nach Rom. Papst Urban vergibt dem Sünder nicht. Tannhäuser ist nicht mehr zu retten. Elisabeth hat die Wartburg verlassen. Wie die Heilige Elisabeth irrt sie im Wald umher. Beide sind Ausgestoßene. Beide sterben.
Auch dem Dramaturgen Carl Hegemann erschien Wagners Tannhäuser als Gesamtkunstwerk, in Libretto, den Gesangspartien, der musikalischen Sprache für die Gegenwart kaum vermittelbar. Daher suchte das Regie-Team den Konflikt im Bühnenbild unterzubringen, in der Regie derart zu verschärfen, dass die Inszenierung  zwischen der großartigen musikalischen Leitung von Thomas Hengelbrock und Baumgartens moderner Inszenierung auseinander brach. Dirigent Hengelbrock bestand auf seiner Meinung, dass Liebe heute genau wie zu allen Zeiten an Macht und Verhältnissen zerbrechen könne, wie Tannhäuser und Elisabeth es vorgeführt haben. Die anhaltenden Bravi der Kunstkenner galten daher den Sängern, dem Orchester und vor allem dem Dirigenten. Die Buhrufe gegen die Inszenierung endeten nicht.
Doch eine Hoffnung, beide Seiten, Tradition und Regieoper zusammenzuführen zu können, kam am gleichen Tag auf. Katharina Wagner eröffnete die Pressekonferenz am 25. Juli so: Müde durch die aufreibenden Vorbereitungen werde es keine Statements geben und Fragen würden nur knapp beantwortet. Und dann stellt sie voran, dass Frank Castorf 2013 die Leitung der Festspiele übernehmen werde. Einen Vertrag werde es geben, wenn der Theatermann von der Berliner Volksbühne ein Team ausgewählt hat, mit dem er zusammenarbeiten könne. Weshalb Castorf die rettende Lösung wäre? In der Berliner Volksbühne habe er die Möglichkeiten des Regietheaters über viele Jahre in jede Richtung ausgelotet. Im Kampf gegen die Tradition nichts ausgelassen. Fast jede Inszenierung – von Tennessee Williams bis zu Fjodor Dostojewski – mit eigenen Textzugaben erweitert und auch den Rechtsstreit für diese Texteingriffe in Kauf genommen.
Mit seinen Inszenierungskonzepten ist Castorf an einem Punkt angelangt, zu dem er erstaunlicherweise mitteilte, es lohne sich nur noch, zum Christentum zurückzukommen. In Bayreuth würde er nicht mit dem „Drama als Oper“ beginnen, sondern nur fortsetzen, was er 2006 mit „Den Meistersingern von Nürnberg“ 2006 an der Volksbühne in Berlin begonnen habe.