14. Jahrgang | Nummer 11 | 31. Mai 2011

Uwe Kolbes Annäherungen an das „Dreibuchstabenland“

von Kai Agthe

In seinem Nachwort zum ersten Band der Werkausgabe von Wolfgang Hilbig, das auch im vorliegenden Band zu lesen ist, erinnert Uwe Kolbe, was der 2007 verstorbene Schriftsteller jenen Kollegen riet, die den Einstieg in einen Text nicht finden: „Beginne einfach mit dem Satz, dass du den Anfang nicht findest.“ Würden wir den Einstieg in diese Rezension nicht finden, würden wir thematisieren, dass wir den Anfang nicht finden. Aber das ist im Fall des neuen Buches von Uwe Kolbe nicht nötig, da die Texte sehr anregend auf den zeitgeschichtlich und literarisch interessierten Leser wirken. Das hier wiedergegebene Nachwort auf Wolfgang Hilbig ist einer von zwei Texten über den 1941 in Meuselwitz geborenen Lyriker und Erzähler. Hinzu kommt ein Nachruf auf den Kollegen, der, so Uwe Kolbe, „Arbeiter von Herkunft, Wesen und Stolz, Dichter von Berufung und Stolz sowie als Dichter Autodidakt (und auch darauf stolz)“ war.
„Vinetas Archive“ ist eine Sammlung von – wie es so treffend heißt – „erzählenden Essays und essayistischen Erzählungen“. Beiträge, die seit 2004 und aus unterschiedlichen Anlässen entstanden: Erinnerungen an das „Dreibuchstabenland“, Reden auf Schriftsteller wie Christa Wolf, Robert Walser und Sarah Haffner sowie bildende Künstler wie Annette Schröter, Christiane Latendorf und Hans Scheib. Mit „Hölderlins Gewissen“ ist auch eine Erzählung über den Dichter enthalten, der Uwe Kolbe nicht nur in der Stadt Tübingen – wo er lange Jahre lebte und die ihm 1993 auch den Friedrich-Hölderlin-Preis verlieh – stets nahe war und ist. „Hölderlin ist mir ein permanenter Begleiter“, antwortete Kolbe 2009 auch auf eine Frage einer Eberswalder Schülergruppe, die sich mit seinem lyrischen Schaffen beschäftigte. Das Frage-Antwort-Spiel, das als Email-Wechsel kenntlich gemacht wurde, ist als Epilog zu lesen. Witzig ist auch ein Text, der nichts anderes als die Zubereitung von Bratkartoffeln skizziert und von dem wir nur erfahren, dass er die Bedingung für eine Einladung nach New York war.
Meine Sympathie für den 1957 in Ost-Berlin geborenen Uwe Kolbe resultiert einerseits aus seiner Vielseitigkeit als Lyriker, Essayist und Erzähler, andererseits aus seiner ebenso steten wie produktiven Dankbarkeit gegenüber seinem Mentor Franz Fühmann (1922-1984). Der war nicht nur einer der bedeutendsten DDR-Autoren, sondern er, Fühmann, ermöglichte ihm, Uwe Kolbe, 1979 die erste Publikation in der Zeitschrift „Sinn und Form“. Im vorliegenden Band ist mit „Der Stoff des Lebens“ ein kurzer Text enthalten, in dem der Autor über ein Foto der Totenmaske des väterlichen Freundes reflektiert. Das Bild stammt von Dietmar Riemann, mit dem Fühmann 1985 den Band „Was für eine Insel in was für einem Meer – Leben mit Behinderten“ gestaltete, der die Bewohner der Fürstenwalder Samariter-Anstalten porträtiert. Die beiden bemerkenswertesten und stärksten Texte des Bandes stehen am Anfang. In „Tabu“ beschreibt Uwe Kolbe überaus anschaulich seine erste Fahrt nach West-Berlin, die er 1982, beginnend am DDR-Bahnhof Friedrichstraße, mit der S-Bahn und Franz Fühmann unternahm. Heute erinnert nur noch der Name „Tränenpalast“ daran, dass zur Zeit der deutschen Teilung der Bahnhof Friedrichstraße für Reisende die Grenze zwischen Ost und West, also Raum des tränenreichen Abschieds, war. Jeder, der wissen will, mit welchen Gefühlen sich ein DDR-Bürger auf der Scheidelinie zwischen den Systemen bewegte, der lese Uwe Kolbes „Tabu“. Damals kam Kolbe wieder zurück in die DDR, um sie jedoch fünf Jahre später endgültig zu verlassen. „Vinetas Archive“ wiederum ist ein aus dreizehn Miniaturen zusammengesetzter Essay, in dem DDR-Geschichte vor der Folie der Biografie Uwe Kolbes – der vier Jahre alt war, als niemand die Absicht hatte, eine Mauer zu errichten, und als dieser Niemand entpuppte sich Ulbricht – verhandelt wird. So erklärt sich auch der Untertitel „Aus persönlichen Beständen“.
In „Vinetas Archive – Annäherungen an Gründe“ zeigt Uwe Kolbe einmal mehr, dass er einer der wichtigen zeitgenössischen Erzähler und Essayisten deutscher Sprache ist. Ich bin sicher, Franz Fühmann wäre stolz, wenn er sehen könnte, was aus dem Talent von einst geworden ist.

Uwe Kolbe: Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe, Wallstein Verlag, Göttingen 2011, 224 S., 19,90 Euro