14. Jahrgang | Nummer 11 | 31. Mai 2011

Bemerkungen

Alles muss raus

Der reale Kapitalismus übt den Ausverkauf. Dass dies in Griechenland geschieht, hat ebenso spezielle Gründe wie der Vorgang andererseits von viel größerer Tragweite ist, als das südeuropäische Staatsgebiet um den Peloponnes dies geografisch hergibt. Um die kapitalismusgemachte Finanz- und Gesellschaftskrise, irgendwie doch noch bewältigen zu können, hat die Regierung, von schierer Hoffnung getragen, nun beschlossen, nun auch die „Sammeltassen“ zu verscherbeln. „Alles muss Raus“ lautet die Devise, ganz wie beim Sommer- und Winterschlussverkauf. Nur. Dass hier nicht Klamotten auf dem Ramschtischen liegen, sondern gesellschaftliches Tafelsilber, das man nach wie vor als das bezeichnen kann und muss, was es ist: Volkseigentum. Die beiden größten Häfen des Landes zum Beispiel, die Postbank, Gaswerke, die gesamte Waffenindustrie, Flughäfen etc. – alles wohlfeil zu haben für jene Privaten, die auf jenem Geld sitzen, das sie nicht zuletzt dadurch horten konnten, was die Krise maßgeblich heraufbeschworen hat. „Wir zielen auf die Rettung unseres Landes“, hat Regierungssprecher Petalotis diesen Vorgang kommentiert. Die Tränen darob kommen einem aber nicht wegen der mitleiderregenden Pathetik solcher Sätze; vielmehr deshalb, weil noch immer das Gegenteil eingetreten ist, wann und wo ein ganzer Staat, dessen Hauptaufgabe in der Daseinsvorsorge für sein Volk besteht, sich komplett in private Hand begab. Es sei denn, man betreibt das in absoluter Konsequenz. Dann könnte/sollte/müsste die Regierung zurücktreten und die Lenkung der Gesellschaft auch ganz offiziell dem überantworten, was in Deutschland BDA und BDI heißt. Vielleicht erleben wir ja aber das auch noch…

Helge Jürgs

Lose-Lose-Win und die vierte Dimension

Dieser Tage am Biertisch – wir fünf ergrauten Figuren treffen uns auch dreißig Jahre nach Studienabschluss noch regelmäßig auf das, was böse Zungen bei Frauen Tratsch nennen – stellte sich heraus, dass Axel genau Bescheid weiß, was mit den kollabierten, Kern geschmolzenen Reaktoren in Fukushima passieren muss. Kühlung durch Meerwasser aus Feuerspritzen, Entschuldigungen des Kraftswerksbosses in den Abendnachrichten oder 10-minütige Stipp-Visiten von danach wahrscheinlich final verstrahlten Freiwilligen vor Ort – alles Placebos, sinnlos, überflüssig, sagt Axel. Zuschmeißen mit Erde und dann mit Beton, wie in Tschernobyl, das sei das einzige, was helfe. Aber natürlich nicht aus niedriger Höhe mit Hubschraubern, wie bei den Russen. Da seien die Piloten zu dicht dran an der Strahlung; von denen lebe heute keiner mehr. Also nur von den Piloten, nicht von den Russen. Gut, Überschallmaschinen gingen auch nicht. Aber langsam fliegende Transporter aus großer Höhe, das wäre eine echte Option. Die Transall-Mumien der Bundeswehr, hier könnten die vor der Verschrottung noch wirklich nützlich sein. Ja schon, Höhe und Flugzeuge gingen natürlich zulasten der Zielgenauigkeit. Da müsse man halt ein paar Mal mehr anfliegen. Klar sei danach vielleicht halb Japan zugeschmissen, doch vor dieser Alternative ständen sie nun mal, die Japaner: verstrahlt werden oder umziehen. Vielleicht allerdings übernähmen auch die Russen den Job und dann doch mit Hubschraubern – wenn’s gut bezahlt würde. Aber die redeten ja nicht mit denen, die Japaner mit den Russen, wegen der Kurilen und so… Axel stand wirklich in der Materie, und mir schien das wieder eine von diesen typischen Lose-Lose-Win-Situationen zu sein, von denen man heute so häufig hört: Da gibt es ein Problem und Leute vor Ort, die nicht auf die richtige Lösung kommen (Lose), dazu Leute, die die richtige Lösung kennen, aber nicht vor Ort sind (Lose) – und schließlich das Problem, dem es deswegen nicht nachhaltig an den Kragen geht (Win). Und wenn man das in dieser globalisierten Welt dann auch noch brühwarm mitbekommt, dann steht man quasi an der Schwelle zur vierten Dimension: LLWL (Lose-Lose-Win-Lose).

Hans-Peter Götz

Das Gähnen einer Verführerin

Wie die taz am 12. Mai berichtete, informierte am 6. Mai 2011 auch die in Brooklyn/New York erscheinende jüdisch-orthodoxe Di Tzeitung über das Ende Osama bin Ladens durch ein us-amerikanisches Killerkommando. Das Blatt druckte – wie fast die gesamte Weltpresse –das Gruppenfoto des Obama’schen Kriegskabinettes im Moment des Abfeuerns der tödlichen Schüsse ab. Allerdings wurden aus dem Foto in der Tzeitung die Antiterrorismus-Leiterin des Weißen Hauses, Audrey Tomason, und Außenministerin Hillary Clinton herausradiert. Die Retusche erklärte die Redaktion des Blattes im Nachhinein mit religiösen Gründen: Damit die männliche Leserschaft nicht „verführt“ werden könne, drucke man prinzipiell keine Abbildungen von Frauen ab. Das ist nachvollziehbar. Nun war aber Frau Clinton die einzige Teilnehmerin der Runde, der beim Anblick des Geschehens ein gewisses Entsetzen ins Gesicht geschrieben war. Das dürfte wohl der eigentliche Grund für diese redaktionelle Dokumentenfälschung gewesen sein. Nur hätte dieses der Größe des historischen Momentes völlig unangemessene Verhalten des Chefin des State Departements schon der Pressestelle des Präsidenten auffallen müssen. Daraus kann man nur lernen: Wir empfehlen Barack Obama die sofortige Einstellung des Bildredakteurs der Tzeitung. Wenn schon die Repräsentanten der einzig wahren Ordnungsmacht dieses Planeten Momente unzulässiger Schwäche zeigen, so haben solche Bilder gefälligst im internen Familienalbum zu verbleiben. Die nachgeschobene Entschuldigung Clintons, sie habe nur gähnen müssen, nötigt uns denn doch nur ein müdes Gähnen ab.

G.H.

Magic Bob

Es gibt magische Momente, deren Tiefenwirkung bleibend ist. Ein solcher war für mich – 1966 ein blutjunger Volontär – ein Abend im seinerzeit gerade aus dem Nichts im Entstehen begriffenen Halle-Neustadt. Der Neubau einer kompletten Stadt wie dieser lenkte nicht nur aus propagandistischen Gründen jede Menge mediale Aufmerksamkeit auf sich, keineswegs nur durch Journalisten. Auch einen gestandenen Schriftsteller wie Jan Koplowitz hatte es auf die Großbaustelle gezogen. Er redigierte dort die extra für die Großbaustelle geschaffene Zeitung Die Taktstraße, und war Tag für Tag auch unterwegs, um nebenher Stoff für spätere Bücher zu sammeln. Ihn hatte ich in Haneu, wie das Bauprojekt bald genannt wurde, kennen gelernt, und Koplowitz lud zu einem Schwatz ein in seine kleine und karg ausgestattete Unterkunft. Wir redeten angeregt über Haneu, bis Koplowitz begann, Platten aufzulegen, über die in jenem kleinen Lande nur verfügen konnte, wer wie er zum Beispiel Mitglied einer Internationalen „Folksong-Assoziation“ war: Bob Dylan! Klar, „Blowin´ in the wind“ oder „Masters of war“ kannte unsereins auch aus dem DDR-Radio, Titel wie diese machten ihn als „Protestsänger“ im Sozialismus salonfähig, bis er sich offen gegen dieses Image zu wehren begann. Aber Koplowitzens Vinylsammlung gab ja viel mehr von eben jenem Dylan preis – und dieses “sehr viel mehr“ hat mich seinerseits vollkommen in seinen Bann geschlagen. Nun weist Dylans enormes Œuvre auch jede Menge Songs auf, die – um es zurückhaltend zu sagen – in den Sockel seines Thrones als Künstler olympischer Weihen nicht unbedingt eingraviert werden müssen. Aber insgesamt: was für eine Musik, was für eine Lyrik, was für ein Werk.Bob Dylan ist am 24. Mai 70 geworden, man mag es kaum glauben. Mich begleitet er nun seit über 40 Jahren und – wie unzählig viele andere – danke ich es ihm.

HWK

Die Erotik der Füße

Das Museum für Asiatische Kunst der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zeigt unter dem Titel „Der chinesische Lustgarten: Erotische Kunst aus der Sammlung Bertholt“ erotische Werke aus der Zeit von 1600 bis 1920. Die Sehnsucht nach dem Frühling in seiner Mehrdeutigkeit habe Direktor Klaas Ruitenbeek angetrieben, so seine Erklärung anlässlich der Ausstellungseröffnung, die Bilder aus der Sammlung seines Freundes Ferry Bertholt nach Berlin zu holen. Diese sind nun im zweiten Stock des Museums hinter einem roten Vorhang versteckt. Über der Tür hängt ein Holzschild, das die Halle des Frühlings als Ort der erotischen Handlungen ausweist. Menschen mit leicht erregbarem Gemüt und deren Schutzbefohlenen wird abgeraten, die beiden Zimmer zu betreten. Die Wände sind in kräftigem Rot und Blau gehalten, was die Augen manchmal verwirrt. Eine rote Laterne hängt von der Decke, um den gewünschten zweideutigen Effekt zu erhöhen. Die Einführung vergleicht in knappen Worten die Frühlingsbilder chunhua mit den japanischen shunga. Nach Worten Bertholts habe maßgeblich die Kulturrevolution dazu beigetragen, dass die chinesische erotische Kunst zerstört und damit unbekannter als die japanische wurde. Zu deren Wiederentdeckung will die Ausstellung einen Beitrag leisten. In den fünf soziologischen Kategorien der Freudenhäuser, der Homoerotik, der Frauenfüße, der Werkstattmalerei und der Lustgärten werden meist anonyme Zeichnungen gezeigt. Auffällig ist die Detailverliebtheit der Hintergründe, die Geschichten der Liebe und des Verrates erzählen. Die Geschlechtsorgane der Liebenden sind anders als in der japanischen Malerei naturalistisch und proportional angemessen. Die abgebundenen Füße der Frauen werden dagegen nicht nackt dargestellt. Die Frühlingsbilder wurden über die Jahrhunderte in Werkstätten kopiert. Sie waren einem breiten adligen Publikum als Lesevergnügen und Anleitung zugänglich. Erst im 18. Jahrhundert kam durch die Verbreitung von Tuschzeichnungen auch der männliche Stadtbürger in ihren Genuss. Die Ausstellung ist noch bis zum 14. August in Berlin zu sehen.

SB

Museum für Asiatische Kunst, Lansstraße 8, Berlin-Dahlem, montags geschlossen.

Direktes Richten

Was Georg Schramm dem deutschen Kabarett ist, muss man Blättchen-Lesern ganz sicher nicht erläutern. In der Liga der politischen Satire hierzulande ist er schlicht, einfach und unbestritten ein Glücksfall! Wobei – „unbestritten“ ist denn doch wohl nicht das rechte Wort, wenn auch am rechten Platz.
Denn wenn jemand wie Schramm über unser schönes Gemeinwesen derart bar jeder Gefälligkeit kompromisslos Tacheles redet, dann sind ihm auch jede Menge Feinde gewiss. Gleichwohl sind Schramms Angriffe natürlich immer auch solche aufs Zwerchfell, zuallererst aber auf Zustände, die viel mehr sind als lediglich hinweg zu lächelnde Gebrechen; Kollateralschäden quasi am deutschen Volkskörper. Schramm zielt auf die strukturellen Webfehler des Realkapitalismus, wie die Kanoniere es „direktes Richten“ nennen, wenn ein Ziel ohne ballistische Umwegsberechnungen und Einlaufkurven getroffen werden soll. Das ist gewiss nicht die einzig mögliche Form der Satire, die wirksamste aber allemal, vergeht den Gemeinten hier doch jenes Amüsement, dem sie sich zum Beispiel bei der Politikerschelte auf dem Nockherberg alljährlich in bierseliger Genüsslichkeit gern hingeben. Als Georg Schramm dieser Tage zum Ehrenpreisträger des Kleinkunstpreises des Landes Baden-Württemberg gekürt wurde, hat er in seiner Dankesrede einmal mehr jene nicht enttäuscht, die von gerührter Dankbarkeit gegenüber den Honoratioren und Sponsoren wohl ebenso negativ überrascht gewesen wären, wie es die Letztgenannten dann ihrerseits waren. Denn Schramm verzichtete auch hier auf artige Kratzfüße und hielt der anwesenden Prominenz in gewohnter Deutlichkeit den Spiegel vor, ein von ihm – immerhin auch für Anwesende! – empfohlenes „Endlager für abgebrannte Politiker“ muss hier als Beispiel genügen. Beifall aus den hinteren und damit bezahlbaren Reihen des Saales waren Georg Schramm sicher, aus den Prominentenreihen der vorderen Saalbestuhlung klang es allerdings anders: „Aufhören!“ und Sauerei!“ und auch „Arschloch“ war von dort ganz unfein zu vernehmen, und – zutreffender Weise – dass dies doch Klassenkampf sei“.
Dass Georg Schramm den Affront nicht scheut, wo er ihn als hin gehörig betrachtet, hätten die Veranstalter eigentlich wissen können. Zumal Schramm in guter eigener Tradition agierte – in seinem Buch „Lassen Sie es mich so sagen“ kann man nachlesen, dass und warum Georg Schramm „Skandale“ wie den besagten im Ruster „Europapark“ durchaus als „gelungenen Abend“ betrachtet…

Heinz Jakubowski

Medien-Mosaik

„Da, wo ich oft gewesen bin, / zwecks Trauerei, / da kommst du hin, da komm ich hin, / wenns mal vorbei.“ So dichtete Theobald Tiger alias Kurt Tucholsky 1925 in der Weltbühne über den jüdischen Friedhof, der vor 131 Jahren vor den Toren Berlins in Weißensee eingerichtet wurde. Hier hatte der 15-Jährige seinen Vater Alex begraben. Doch er selbst kam nicht dorthin, weil er in Schweden starb und sich dort auch ein Grab unter einer Eiche ausgesucht hatte. Doris Tucholsky, seine Mutter, liegt ebenso wenig in Weißensee. Sie wurde in Theresienstadt umgebracht. So kann man über die rund 115.000 Gräber auf diesem größten jüdischen Friedhof Deutschlands viele Geschichten erzählen. Britta Wauer hat es getan. Ihr Film „Im Himmel, unter der Erde“ führt auf den Friedhof, der selbst während der Nazi-Zeit in jüdischer Selbstverwaltung blieb. Nach den Vernichtungsaktionen der Nazis verfiel das Riesenareal, für dessen Erhaltung nicht genügend Geld zur Verfügung stand. Immerhin gab es spät, beginnend mit der 100-Jahr-Feier, freiwillige Arbeitseinsätze von FDJ- oder Kirchengruppen. Auch in der Gegenwart wirkt der Friedhof unweit der geschäftigen Berliner Allee wie ein verwunschener Ort. Nach und nach wird restauriert, auch Alex Tucholskys Grabstelle gehört dazu. Britta Wauer hat einen nachdenklichen, aber keinen traurigen Film über den Friedhof geschaffen. Sie erzählt merkwürdige, skurrile Geschichten, darunter die von einer jungen Familie, die auf dem Friedhofsgelände eine günstige Wohnung gefunden hat. Zu den Zeitzeugen zählt der Rabbiner William Wolff, der verschmitzt manch ironische Bemerkung fallen lässt.
In dem Film, der auf der Berlinale den Publikumspreis gewann, musste auch manche Geschichte aus Zeitgründen entfallen. Glücklicherweise hat Britta Wauer nun gemeinsam mit Amélie Losier einen zweisprachigen Bild-Text-Band über Menschen und Zeiten dieses Friedhofs herausgegeben. Dabei konnte auch auf über 100 Jahre altes historisches Bildmaterial zurückgegriffen werden, das teilweise von Nachkommen hier bestatteter Juden aus aller Welt zur Verfügung gestellt wurde. Ein kundiges Nachwort von Dr. Hermann Simon, dem Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, ergänzt den Band.
Simon ist auch Herausgeber der verdienstvollen Reihe „Jüdische Miniaturen“, auf die hier mehrfach hingewiesen wurde, und die mittlerweile auf über 100 Titel angewachsen ist. Vor wenigen Monaten legte hier der Historiker Dr. Horst Helas den Band „Die Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel“ vor. Er erlaubt einen aufschlussreichen Rückblick in die Berliner Geschichte. Man erfährt, dass die Grenadierstraße eigentlich die Verlohrene Straße war, die nach dem Sieg über Napoleon in Grenadierstraße (benachbart die Dragonerstraße) umbenannt wurde. Nach Abwendung vom Militarismus wurde die Straße 1951 nach dem Antifaschisten Bernhard Almstadt benannt. Der Autor kann die Entwicklung dieses vorwiegend von Juden bewohnten Viertels anhand von Dokumenten und Zeitzeugenberichten nachzeichnen. Dazu zählen die Erinnerungen des Schauspielers Alexander Granach, der als Bäckerjunge aus Ostgalizien ins Berliner Scheunenviertel kam. Wir finden die liebevollen Porträts von Wein- und Garnhändlern, Zeugnisse regen jüdischen Lebens in Berlin. Von den historischen Fotografien hätte man sich allerdings oft gewünscht, dass sie größer wiedergegeben worden wären.

bebe

„Im Himmel, unter der Erde“, Film von Britta Wauer, täglich im Kino Toni am Antonplatz in Berlin-Weißensee sowie in zahlreichen ausgewählten deutschen Kinos.
Britta Wauer/Amélie Losier: Der jüdische Friedhof Weißensee, berlin edition im be.bra verlag, Berlin 2011 176 S., 24,95 Euro.
Horst Helas, Die Grenadierstraße im Berliner Scheunenvierte. Ein Ghetto mit offenen Toren, Hentrich & Hentrich Berlin 2010, 128 S., 12,90 Euro.