14. Jahrgang | Nummer 7 | 4. April 2011

Der Himmel über Hiroshima

von Sandra Beyer

Der Morgen des 6. August 1945 war warm und wolkenlos, und dies sollte der Hafenstadt im Süden der japanischen Hauptinsel Honshû zum Verhängnis werden. So konnten die Aufklärungsflugzeuge der US-amerikanischen Luftwaffe nämlich ihr Ziel, die Brücke in der Form eines „T“ vor der Industrie- und Handelskammer, aus fast sechshundert Metern Höhe sehr gut sehen. Zwar hatten die japanischen Frühwarnsysteme bereits gegen 7 Uhr die Flugzeuge geortet, doch drei Maschinen als für einen Luftangriff zu wenig betrachtet. So konnte die Besatzung der „Enola Gay“ ungestört die drei Meter lange und vier Tonnen schwere Uranbombe namens „Little Boy“ um 8.15 Uhr Ortszeit ohne Zwischenfälle über der Garnisonsstadt Hiroshima zünden.
Läuft man heute, 66 Jahre später, über diese Brücke, betritt die Besucherin eine Insel, auf der sich Pärchen händchenhaltend und Schulklassen mit lachenden jungen Gesichtern und dem obligatorischen Victory-Zeichen vor den Monumenten fotografieren. Besonders beliebt ist dabei der so genannte Atombombendom, der im Dezember 1996 nach langem Streit und dem Einspruch Chinas und der USA in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Die Überreste der Handelskammer am Ufer des Motoyasu-Flusses liegen mit dem Zenotaph für die Asche der Opfer und der Ewigen Flamme auf einer Linie, die auf das Friedensmuseum am gegenüberliegenden Ende des Parks zeigt. Der „Dom“, 1915 nach den Plänen des tschechischen Architekten Jan Letzel erbaut, ist trotz der Nähe von nur 150 Metern zum Abwurfort zerbrochen stehen geblieben. Wer einmal bei Nacht das künstliche Licht durch das Stahlgerippe und bei Tag die Sonnenstrahlen durch die ausgebrannte Kuppel hat scheinen sehen, kann verstehen, warum auch die Menschen von Hiroshima Probleme damit hatten, diese grausame Schönheit als Erbe menschlichen Schaffens ehren lassen zu wollen. Als die Besatzung der B-92 die Bombe abwarf, waren besonders junge Menschen, insbesondere auch Frauen auf den Straßen der Stadt unterwegs. Das japanische Militär setzte gegen Ende des Krieges Schülerinnen und Schüler sowie koreanische Zwangsarbeiter ein, um durch den groß angelegten Abriss von Häusern Brandschneisen gegen mögliche alliierte Luftangriffe durch Hiroshima zu legen. Bis zu jenem Tag war die Stadt nämlich von Angriffen verschont geblieben. Die Witterungsbedingungen und die gute Lage in einem Talkessel, der sich zum Meer hin öffnet, ließen Hiroshima für eine Erprobung der Auswirkungen einer Atombombe ideal erscheinen. Zudem wurden über die Stadt imperiale Truppen für den Eroberungskrieg in China und Korea verschifft, so dass ihre Zerstörung Japans Großmachtplänen auf dem asiatischen Festland einen empfindlichen Schlag zufügen würde.
Diese Rolle als Garnisonsstadt sowohl gegen die eigenen Nachbarn seit dem Chinesisch-Japanischen Krieg 1894/95 als auch in der Militarisierung seit der Öffnung Japans zum Westen 1853 hat Hiroshima nie verschwiegen. Die Ausstellung im Friedensmuseum der Stadt beginnt deswegen auch mit der Meiji-Restauration und der Wiedereinsetzung des Kaisers 1868, die zu einem raschen Aufbau der Bürokratie und des Militärs einer modernen Monarchie des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild Preußens führte. Die Städte Hiroshima und Nagasaki geben nicht vor, nur Opfer eines Krieges geworden zu sein, an dem die Bevölkerung nicht beteiligt war. Sie versuchen ihrer Rolle als Mahnerinnen des Friedens gerecht zu werden. So schlug der damalige Bürgermeister von Hiroshima, Takeshi Araki, zur 2. außerordentlichen Sitzung UNO zur Abrüstung am 24. April 1982 das „Programm zur Förderung der Solidarität der Städte mit dem Ziel der vollständigen Abschaffung von Atomwaffen (Partnerschafts-Programm der Städte Hiroshima und Nagasaki zur Ächtung aller Atomwaffen in Ost und West)” vor. Unabhängig vom politischen System ihres Staates beteiligten sich seitdem die „Regierenden“ vieler Städte und Gemeinden der Welt an diesem Programm. Bis 1989 waren zum Beispiel 100 deutsche Städte in der BRD und der DDR Mitglied dieser Bewegung geworden. Seit 1990 ist die Initiative eine Nichtregierungsorganisation der UNO. Die Oberhäupter aller Städte und Gemeinden der Welt können Mitglied dieser Initiative werden, wenn sie die Hiroshima-Nagasaki-Erklärung zur weltweiten Abrüstung vertreten und selbständig die Kosten für die Konferenzen und Aktionen tragen. Am 1. März 2011 waren 4.540 Städte und Gemeinden aus 150 Ländern „Mayors for Peace“, wie sich die Mitglieder seit 2003 nennen. Berlin ist mit dem Regierenden Bürgermeister sowie vier Bezirksbürgermeistern vertreten. Doch Klaus Wowereit sieht aus Kostengründen keine Veranlassung, sich an der Kampagne „Vision 2020“ zu beteiligen. Zur UNO-Dekade der Abrüstung (2010-2020) fordert diese die Erarbeitung eines verbindlichen Zeitplanes zur Abschaffung aller Atomwaffen. Während sich zwei japanische Städte gegen ihre eigene Regierung in Tokyo stellen und öffentlich die Politik der amerikanischen Militärbasen im Land, zum Beispiel auf der Insel Okinawa, kritisieren können, lässt der Regierende Bürgermeister als Antwort auf eine Kleine Anfrage im Berliner Abgeordnetenhaus verlauten, dass Abrüstungspolitik Sache des Bundes wäre. Das regierende Oberhaupt der Stadt, die sich zu DDR-Zeiten „Stadt des Friedens“ nannte, zieht sich also aus „Zuständigkeitsgründen“ als Mayor for Peace zurück.
Während die japanischen Mayors for Peace sich gegen die Militärbasen und gegen die Entsendung der so genannten Selbstverteidigungskräfte zu Auslandseinsätzen engagieren, sind sie sich bei der Einschätzung der Gefahren der Atomenergie weniger einig. Nach dem Erdbeben vom 11. März 2011 gab die Initiative diese Differenzen offen zu. Auf ihrer Internetseite lässt sie Stimmen aus Mitgliedergemeinden um das Atomkraftwerk Fukushima und von Atomkraftgegnern zu. Die unterschiedlichen Haltungen zur Kernenergie zeigt einerseits die Dezentralität dieser NRO, aber auch die Vorsicht, die sie gegenüber Themen außerhalb der Forderungen nach Abrüstung walten lassen will. Beim Besuch des Museums von Hiroshima wird schnell deutlich, dass die Mayors of Peace, wie der Name bereits sagt, eine Initiative von staatlichen Organen ist, die über Ländergrenzen hinweg Frieden schaffen möchte. Jedoch ist eine zivilgesellschaftliche Verankerung des Friedensgedankens außerhalb der Städte Hiroshima und Nagasaki für eine landesweite Bewegung in Japan zu schwach ausgeprägt. Bereits die Kommunalwahlen in Okinawa am 28. November 2010 zeigten, dass in der Bevölkerung Themen wie Krieg und Frieden trotz des verfassungswidrigen Auslandseinsatzes der „Selbstverteidigungstruppen“ wenig von Interesse sind. Die Insel teilt dabei das Schicksal der beiden Mahnerinnen des nuklearen Zeitalters: Außerhalb ihrer Grenzen und besonders bei der Zentralregierung in Tokyo haben ihre Stimmen nur symbolisch Gewicht. Noch hält sich Kritik, die über den Politikstil der Regierung hinaus geht und sich auf die militärische und zivile Nutzung der Atomenergie selbst bezieht, öffentlich in Grenzen. Denn auch die Mayors for Peace sehen sich gerade in solchen Krisenzeiten wie jetzt der Kritik aus dem In- und Ausland ausgesetzt: Für die einen würden mit ihrer Zurückhaltung die japanische Tatenlosigkeit unterstützen und für die anderen sich durch ihre offenen Worte mit dem Japan stereotypisierenden Ausland gemein machen.
Hiroshima hat nach 1945 versucht, sein schweres historisches Erbe anzunehmen und für den Frieden zu mahnen. Das ist dieser Stadt anzumerken. Auch wenn sie sich von anderen japanischen Großstädten äußerlich nicht zu unterscheiden scheint: Sie ist jung, und an jeder Ecke finden wir ein Zeugnis jenen Tages, an dem die Sonne vom Himmel stürzte. Die Stadt zeigt der Welt ihre Offenheit des Wiederauferstehens, die gerade durch den Bezug auf Japans militärische Vergangenheit und in der Frage des Einsatzes des japanischen Militärs in Afghanistan einen kritischen Standpunkt gegenüber Tokyo einnimmt.