13. Jahrgang | Nummer 21 | 25. Oktober 2010

Brasiliens konfuse Präsidentschaftswahlen

von Klaus Hart, Sao Paulo

Mit Pomp und Getöse zogen Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva und Nachfolge-Wunschkandidatin Dilma Rousseff mitten in der City von Sao Paulo Tage vorm ersten Pflichtwahlgang kühn eine „Siegeskundgebung“ durch – der Nation wurde per TV-Propaganda eingehämmert, dass „Dilminha“ überlegen gewinnen würde und es zwecklos sei, hinter der Pappwand der Wahlkabine gar Gegenkandidaten in den Votiercomputer einzutippen. Zugleich wurde man auf der „Siegeskundgebung“ Zeuge bizarrer Polit-Schauspielerei von Lula & Co., absurdem Victoria-Gekrähe. Denn der Stimmungswandel im Wahlvolk ist selbst hier deutlich zu spüren: Im Großraum der Megacity leben bzw. hausen rund 24 Millionen Menschen teils in grausigen Elendsvierteln, doch ins Samba-Stadion mussten von weither Anhänger mit Bussen herangekarrt werden, da sich offensichtlich in Sao Paulo freiwillig kaum jemand auf den Weg machen wollte. Lula, Dilma Rousseff und Gouverneurskandidat Aloisio Mercadante gestikulierten vor höchstens 3.000 Leuten, statt vor Zehntausenden. Der Staatschef selbst feierte bei jeder Gelegenheit angebliche Popularitätsraten von über 80 Prozent als Zustimmung zu seiner Politik, zu den Resultaten achtjähriger Amtszeit. Dilma Rousseff ist jahrelang seine Chefministerin des Zivilkabinetts – beide schmissen den Wahlkampf landauf, landab zu zweit. Da galt auch vielen im fernen Europa der Wahlsieg als todsicher. Zumal sogar brasilianische Unterschichtenfrauen nicht Dilma Rousseff als Präsidentschaftskandidaten der Arbeiterpartei nannten, sondern Lula. „Eu voto de novo pra Lula!“ Er führe doch in Wahrheit den Laden weiter, „Dilminha“ sei nur seine Marionette. Der Ex-Gewerkschaftschef selbst hatte eingeräumt, in einer Rousseff-Regierung eine aktive Rolle spielen zu wollen.

Doch die „Siegesfeier“ in Sao Paulo war verfrüht, denn bekanntlich erhielt Dilma Rousseff im ersten Wahlgang nicht einmal 47 Prozent der Pflichtwählerstimmen und muss am 31. Oktober gegen Herausforderer José Serra von der stockkonservativen bis rechten, nur dem Namen nach „sozialdemokratischen Partei“ Brasiliens in die Stichwahl. Brasiliens Politikexperten schlussfolgern daher: Wenn die Wunschkandidatin sich überraschend einer Stichwahl unterziehen muss, zeigt dies, was die Mehrheit der Brasilianer tatsächlich über die Leistungen der Lula-Regierung denkt. Und das sogar in der wichtigsten lateinamerikanischen Industrieregion, dem Proletarier-Teilstaat Sao Paulo – Wiege der Arbeiterpartei PT und ihres Führers Lula. Nicht einmal hier kam Dilma Rousseff auf eine Stimmenmehrheit – und der neue Gouverneur ist aus der Partei von José Serra.

Brasilien, 24-mal größer als Deutschland, hat 26 Teilstaaten und den Hauptstadtdistrikt Brasilia. Serras Partei PSDB stellt künftig die Gouverneure in wirtschaftlich führenden Teilstaaten wie Sao Paulo, Minas Gerais sowie Paraná, außerdem im nördlichen Tocantins und hat zudem in der Stichwahl gute Chancen auf weitere Teilstaaten. Lulas Arbeiterpartei errang im ersten Wahlgang lediglich vier Gouverneursposten, mit Ausnahme des an Argentinien und Uruguay grenzenden Rio Grande do Sul allesamt wirtschaftlich weniger wichtig.

Die Abgeordnetenkammer des brasilianischen Nationalkongresses hat 513 Sitze, doch Lulas PT kommt künftig nur auf 86 – auch auf die Kongresskandidaten färbte Lulas „Popularität“ also nicht gerade ab. Was war geschehen? Nur Wochen vor den Wahlen leistete sich die Regierung einen weiteren heftigen Korruptionsskandal. Die Hauptbelastete, Erenice Guerra, enge Vertraute von Lula und Dilma Rousseff, verteidigte der Staatschef zunächst, bescheinigte ihr unschätzbare Verdienste für Brasilien. Die Enthüllungsberichte der Medien zeigten lediglich „Intoleranz, Hass und Lüge“. Doch dann blieb Lula nichts weiter übrig, als jene Erenice Guerra zu feuern, die von Dilma Rousseff zur Nachfolgerin im Regierungskabinett gemacht worden war. Vor diesem Hintergrund änderten viele Brasilianer kurzfristig ihre Wahlabsichten, weil sie das denn doch zu fatal an den Mega-Skandal um Parteien-und Stimmenkauf in Lulas erster Amtszeit erinnerte, als der damalige Chefminister flog – und Dilma Rousseff den Posten bekam.

Die einstige Diktaturgegnerin Rousseff will in Brasilien die Abtreibung legalisieren – doch kurz vorm Urnengang Anfang Oktober bemerkten ihre Wahlmanager, dass es deshalb bei Katholiken und evangelikalen Sektenkirchen gefährlich rumorte. Überraschend erklärte sie sich deshalb zur Abtreibungsgegnerin – und machte damit alles nur noch schlimmer. Der Positionswechsel wurde von den Kirchen als plumper Anbiederungsversuch verstanden und spielte prompt Herausforderer José Serra Stimmen zu, der eine Abtreibungsfreigabe ablehnt. Doch Hauptnutznießerin wurde Marina Silva, Predigerin einer evangelikalen Wunderheilerkirche und Präsidentschaftskandidatin der Grünen Partei Brasiliens (PV), eine frühere Umweltministerin Lulas. Dessen Wahlkampfteam entdeckte zu spät, dass PV-Leute massiv religiöse Botschaften gegen Dilma Rousseff verbreiteten. Videos von Sektenpastoren wurden zu regelrechten Hits und im Internet Millionen Mal angeklickt. Abtreibung halten immerhin 56,4 Prozent der 16- bis 18-Jährigen öffentlicher Schulen Rio de Janeiros laut einer neuen Umfrage für ein „Verbrechen“ – und für rund die Hälfte wäre die Homo-Ehe entweder „Sünde“ oder eine „Verirrung“. Rund 71 Prozent der Brasilianer wollen keine legalisierte Abtreibung. Der tief konservative Grünen-Star Marina Silva liegt da sozusagen voll im Trend – und erreichte als Drittplatzierter im ersten Wahlgang rund 20 Prozent. Brasiliens Grüne erklärten sich vor der Stichwahl offiziell als neutral – doch gemäß Umfragen schwenken die allermeisten Marina-Silva-Wähler jetzt zu José Serra um. Kein Wunder – in den Teilstaaten sind sie meist dessen Parteigänger, und in der Präfektur von Sao Paulo stellen die Grünen sogar den Umweltsekretär. Dass es in der Megacity trotz oder vielleicht besser: dank grüner Macht-Teilhabe um den Umweltschutz eher katastrophal steht, ist bekannt – Flüsse sind eklige Kloaken, die Gift-Luft verursacht Kopfschmerzen, Allergien, Krebs, Infarkte, Schlaganfälle, und selbst ein Radwegnetz sucht man in der Stadt vergeblich.

Marina Silva hätte als Umweltministerin in sechs Amtsjahren durchaus mancherlei Verbesserungen bewirken können. Der renommierte Naturschutzexperte Mario Moscatelli aus Rio de Janeiro erlebte sie indessen „bürokratisch und beinahe apathisch“, Greenpeace-Experte Sergio Dialetachi empfahl ihr bereits im ersten Jahr den Rücktritt. Unter Marina Silva machte die Urwald-und Savannenvernichtung kräftige Fortschritte, kam der Gensoja-Anbau richtig in Fahrt, wurde Brasilien Weltmeister beim Agrargifteinsatz, wurden Persilscheine für den Bau großer Wasserkraftwerke in Amazonien und für die Umleitung des Nordost-Stroms Sao Francisco ausgestellt, fiel die Entscheidung für fünf Atomkraftwerke – alles Projekte, gegen die Umweltschützer Sturm laufen. Marina Silva hat in Europa eine gute Presse, bekommt sogar hochdotierte Umweltpreise. Anderen ist die Grüne womöglich sympathisch, weil sie als Ministerin zu Korruptionsskandalen, zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen, darunter alltäglicher Folter, oder Todesschwadronen den Mund hielt und auch im Präsidentschaftswahlkampf diese Themen nicht ansprach. Amnesty International hat systematische Folter, Scheiterhaufen und Killerkommandos, außergerichtliche Exekutionen, Sklavenarbeit sowie die Rechtlosigkeit der Slumbewohner unter der Diktatur neofeudaler, hochgerüsteter Banditenkommandos und paramilitärischer Milizen immer wieder angeprangert, Lulas acht Regierungsjahre als Enttäuschung bezeichnet. „Die Praxis der Folter ist als Form institutioneller Gewalt im Alltag des Sicherheitsapparats weiter präsent und richtet sich besonders gegen die Armen“, analysiert die nationale Soziologiezeitschrift.

Dies erleichtert die politische Einordnung des Staatschefs und seiner Regierung kolossal, zumal er seit Amtsbeginn von der nationalen und internationalen Geldelite mit Sympathiebekundungen überschüttet wird, die Zahl brasilianischer Millionäre und Milliardäre sprunghaft anstieg. Aber lobt nicht alle Welt, dass unter Lula die Armut deutlich sank, an die 36 Millionen Brasilianer sogar in die Mittelschicht aufstiegen? Stutzig könnte machen, dass die achtgrößte Wirtschaftsnation auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung auf den 75. Platz zurückfiel, weltweit nur in Haiti und Bolivien die gesellschaftliche Ungleichheit krasser ist. Zudem liegt Brasiliens Armutsgrenze kurios niedrig. Das Land zählt inzwischen zu den teuren Ländern – doch wer monatlich umgerechnet mehr als etwa 65 Euro verdient, ist statistisch nicht mehr arm. Und mit einem Familien-Haushaltseinkommen von umgerechnet rund 500 Euro (!) gehört man schon zur Mittelschicht. Viele, doch keineswegs alle armen oder verelendeten Familien, die anspruchsberechtigt sind, bekommen Anti-Hunger-Hilfe der Regierung, die sogenannte Bolsa Familia. Im Schnitt sind es monatlich umgerechnet an die 43 Euro. Das macht dann bei einem Slum-Ehepaar mit vier, fünf, sieben Kindern wie viel pro Kopf? Nicht zufällig spricht sogar die UNO von „offiziellen Almosen“, ungeeignet den Hunger zu beseitigen. Bolsa Familia wird überdies praktisch von der Zielgruppe selbst finanziert, nämlich über absurd hohe indirekte Steuern.

Lula hatte versprochen, das Hungerproblem auszutilgen, muss sich indessen von den Landesmedien vorrechnen lassen, dass sein U-Boot-Rüstungsgeschäft mit der Sarkozy-Regierung so teuer ist wie zwei Jahre Anti-Hunger-Programm. Gehe ich durch Sao Paulo, Lateinamerikas reichste Stadt mit über 2.000 Slums, sehe ich täglich zerlumpte, abgehungerte Gestalten, die abgestellte Müllsäcke aufreißen und dann bei Tropenhitze vergorene, grauenhaft stinkende Abfälle in sich hineinschlingen.

Präsidentschaftskandidatin Dilma Rousseff hat unterdessen eine religiöse Offensive gestartet, bezirzt Katholiken und Sekten. Abtreibung solle nicht legalisiert werden, und Beschränkungen für religiöse Predigten werde sie als Staatschefin nicht zulassen. Denn ein geplantes Gesetz sollte verbieten, dass evangelikale Pastoren Homosexuelle weiterhin als krank bezeichnen und deren medizinische Behandlung empfehlen.

Fazit: Es könnte also doch noch klappen mit Rousseffs Wahlsieg.