13. Jahrgang | Nummer 19 | 27. September 2010

Was haben die Römer je für uns getan?

von Holger Jobst

Ach ja: Bilanzen… Schon mal gut, daß die Redaktion bei ihrer Einladung zum Mittun an der Blättchen-liken Abarbeitung des derzeit vom Zeitgeist verordneten Tagesthemas diesen Begriff plural anbietet. Sicher doch wohl, um den Eingang von Texten zu vermeiden, „in denen alles drinsteht“. Geht ja eh nicht, und in einem Reflexionsblatt wie diesem sollte es auch nicht mal versucht werden. Bescheidwisser haben ihre eigenen Podien.

Nun also: Müßte ich mich als junger Bundesbürger zu der Bilanz entschließen, die mein Befinden 20 Jahre nach dem Beitritt der DDR zum Hoheitsgebiet des Grundgesetzes ebenso kurz wie präzise formuliert, so hätte ich zu sagen: Meine Welt ist diese vermarktete Welt nicht – mit alledem, was mit Vermarktung zu tun hat und hier nicht aufgezählt werden muß. Damit könnte ich es auch schon bewenden lassen sowie in Sachen Gegenwart und Zukunft sorgenvoll in den blauen Himmel über Mallorca schauen.

Dies vorausgeschickt, möchte ich allerdings doch noch eine zweite Bilanz anschließen, und zwar mit ein paar Zeilen mehr, als es das erstgenannte Diktum tut. Wie fremd auch immer ich mich heute in einer Gesellschaft befinde, die – wie gesagt –die meine nicht ist, so sehr bin ich dem Schicksal dafür dankbar, daß diese mir etwas beschert hat, das ich im Falle weiterer 40 Jahre Realsozialismus möglicherweise nie erfahren hätte: geistige, intellektuelle  Freiheit. Ja, ja – ich weiß durchaus, wo auch hierzulande diesbezüglich die Sägen klemmen; immerhin beanspruchen nur Idioten für den Kapitalismus Vollkommenheit. Aber aufnehmen zu können, was in dieser Welt erfahren, gedacht und gesagt wird und mit diesem Wissen selbst denken zu können, ohne daß ich permanent dazu aufgefordert oder genötigt werde, mich an das Geländer vorgegebener Doktrin zu klammern – das jedenfalls möchte ich nie mehr missen und schon gar nicht von jenen verächtlich gemacht haben, die einstmals die Geländer in möglichst jedermanns Lebenswelt aufgerichtet und deren Benutzung strengstens überwacht haben.

Jene, die – zum Glück – andere Publikationen bedienen als „Das Blättchen“, erinnern mich mit ihrer weinerlich-trotzigen Larmoyanz übrigens gar sehr an eine der vielen wunderbaren Szene in Monty Pythons grandioser Satire „Das Leben des Brian“. Anno domini 33 sitzen in einem kleinen Jerusalemer Haus die Revolutionäre der Volksfront Judäas (nicht zu verwechseln mit der Judäischen Volksfront!) konspirativ beisammen und beraten, mit welchen Kommandounternehmen sie gegen die römischen Besatzer kämpfen können. Reg, der Kommandeur, faßt den heiligen Zorn der Besetzten emphatisch zusammen und klagt die Römer mit geißelnder Schärfe an, „uns“ ausgeblutet und „alles genommen zu haben“. Und er fragt mit Stentortimme: „Was haben sie dafür als Gegenleistung erbracht?“

Immerhin und abweichend von realsozialistischer Praxis wagt jemand eine positive Antwort: „Den Aquädukt.“ Was Reg zugesteht – allerdings mit nur schlecht verhehltem Widerwillen, wodurch prompt weitere Hinweise provoziert werden: „Die sanitären Einrichtungen. Weißt Du noch, wie es früher in der Stadt stank?“ „Und die schönen Straßen.“ Reg: „Ach ja, selbstverständlich die Straßen. Das mit den Straßen versteht sich ja von selbst, oder? Aber abgesehen von den sanitären Einrichtungen, dem Aquädukt und den Straßen…“

Nochmals fällt den Revolutionären einiges ein: „Die Bewässerung …, medizinische Versorgung …, Schulwesen…“ Reg: „Naja gut. Das sollte man erwähnen.“ „Und der Wein … Au ja! Genau! Ja. Das ist wirklich etwas, was wir vermissen würden, wenn die Römer weggingen … Die öffentlichen Bäder…“

Reg, als Demokrat, der er ist, faßt die Debatte schließlich so zusammen: „Also gut. Mal abgesehen von sanitären Einrichtungen, der Medizin, dem Schulwesen, Wein, der öffentlichen Ordnung, der Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und der allgemeinen Krankenkasse – was, frage ich euch, haben die Römer je für uns getan?“

Das war im Jahre 33 nach Christi Geburt. 2.000 Jahre später funktioniert dieses Verhaltensmuster des Opferseins als anthropologische Konstante ungebrochen fort; aber das haben Konstanten ja auch so an sich …