13. Jahrgang | Nummer 15 | 2. August 2010

Toscanische Miszellen

von Wolfgang Geier

Das toscanische Idiom des Italienischen ist für einen ausländischen Besucher ziemlich schwierig. Mario lobt herzlich lachend die schon ‚ganz gute’ Aussprache des Gastes, Maurilio verbessert nachsichtig lächelnd die Fehler.

Die südwestliche Toscana zwischen Siena im Norden, dem Mare Tirreno/Golfo di Follonica im Westen, der Maremma im Süden und dem Monte Amiata im Osten ist seit bald neunzehn Jahren unser bevorzugtes Urlaubsziel.

Die etruskischen Ausgrabungsstätten von der Küste bis zu den Bergen – Populonia, Vetulonia, das Bergnest Tirli, die etruskisch-römische Großstadt Roselle, um nur einige zu nennen – beeindrucken ebenso wie die gesamte Landschaft mit ihrer eigenartigen, teilweise einmaligen Flora und Fauna. Zwischen Siena im Norden und Grosseto im Süden erstreckt sich ein bis auf wenige jahreszeitliche Unterbrechungen riesiges fast immergrünes Laub- und Mischwaldgebiet.

Faszinierend sind die mittelalterlichen Städte – von Florenz, Pisa, Volterra, Lucca und anderen in der nördlichen Toscana; weiter südlich Massa Marittima, Siena, Pienza, Montalcino, Grosseto. Das tausendjährige Massa Marittima, dessen Name auf die vor Jahrhunderten noch bestehende Küstenlage hinweist, bezaubert durch die Architektur seines Zentrums, der Piazza Garibaldi mit dem Palazzo Vescovile (Bischofspalast), dem Palazzo del Podestà (Rathaus) und vor allem durch den Dom San Cerbone, einem der wenigen rein romanischen Bauwerke aus dem 13. Jahrhundert. Auf den Domstufen und der sie umgebenden Piazza kann man jedes Jahr Anfang August in einer Sommernacht großartige Aufführungen von Verdi-Opern erleben: Il Trovatore, Aida und andere, dargeboten von exzellenten Reiseorchestern mit ihren Solisten und Chören.

Siena ist nach der unerschütterlichen Meinung der Sienesen natürlich die ‚Perle der Toscana’, auch bezogen auf die ewige Rivalität mit Florenz. Heute geht es um die kulturelle, künstlerische, schließlich touristische Attraktivität, Jahrhunderte früher bekämpften sich beide Städte mit ihren Heeren und Verbündeten bis zur zeitweiligen gegenseitigen Unterwerfung.

A propos Florenz: Nach und neben seinen kaum aufzähl-, geschweige denn beschreibbaren großartigen Kulturdenkmalen und Kunstschätzen kann man Kulinarisches entdecken. Unweit des Ponte Vecchio, am südlichen Arno-Ufer, nahe San Jacopo, liegt die Trattoria Cinghiale Bianco („Zum Weißen Wildschwein“). Ein Medici hatte auf einer Jagd in den Wäldern südlich des Arno ein Cinghiale Bianco, ein Albino erlegt. Die Bewältigung der Speisekarte dieser Trattoria erfordert einen längeren Aufenthalt in Florenz, gelegentlich unterbrochen durch den Besuch des Duomo, des Palazzo Vecchio, der Galleria degli Uffizi, der Palazzi Medici-Riccardi und Pitti, der Santa Croce, der Forte di Belvedere – und so weiter.

Notabene Siena: Il Campo, der muschel- oder fächerförmige, abfallende Rathausplatz mit der Fonte Gaia ist der städtische Mittelpunkt. Am oberen Rand sind Cafés und Restaurants, im tieferliegenden Zentrum, der Mittelachse, liegt der Palazzo Publicco mit der Torre del Mangia. Das Herz der Stadt ist der Dom Santa Maria, begonnen im 12. Jahrhundert. Er trägt aus Stein die Farben Sienas: Schwarz und Weiß. Im Innenraum der dreischiffigen Basilika befinden sich neben einmaligen Einlegearbeiten des Fußbodens, Gemälden, Skulpturen und anderem Schmuck die Porträtbüsten von Päpsten vom 15. bis 16. Jahrhundert. Im eigentlichen Wortsinn überwältigend ist die Libreria Piccolomini, von Francesco Todeschini Piccolomini (Papst Pius III.) zum Andenken an seinen Onkel Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II.) errichtet. Sie enthält außer einer einzigartigen Handschriftensammlung auf großformatigen, detailreichen Gemälden eine Darstellung des Lebens Pius’ II. von seiner Jugend bis zu seinem Tode am Beginn eines von ihm geplanten Kreuzzuges.

Enea Silvio Piccolomini war eine der großen Gestalten der italienischen Renaissance: Lebemann und Dichter (poeta laureatus), Jurist und Karrierediplomat in päpstlichen wie kaiserlichen Diensten, hoch geachteter und erfolgreicher Vermittler zwischen den kontroversen Konzilien und den kriegführenden Parteien dieser Zeit, schließlich ein geradezu ‚kometenhafter Aufstieg’ vom Priester zum Papst.

Siena ist nicht sein Geburtsort, sondern Pienza, wovon noch zu berichten ist. Die Sienesen betrachten ihn jedoch als ‚einen der Ihren’, eine Mischung aus Stadtmäzen und Schutzpatron. Der Besucher erweckt sofort Begeisterung, wenn im Gespräch mit Einwohnern der Stadt Enea Silvio Piccolomini, Papa Pio Secondo, erwähnt wird – vom Personal in einem Restaurant am Campo über einen Ladenbesitzer nahe der Loggia della Mercanzia bis zu einem Polizisten vor dem Museo dell’ Opera Metropolitana und schließlich einem Padre in Il Duomo. Sie waren geradezu enthusiasmiert, sich mit dem Gast über Papa Pio Secondo unterhalten und sozusagen ‚im gleichen Atemzuge’ eines der mitunter pikanten Histörchen aus seinem Leben  erzählen zu können.

Um Siena und seine reizvolle Umgebung kennenzulernen, braucht man wenigstens eine Woche, besser einen Monat – oder man bleibt gleich für immer.

Pienza, ursprünglich Corsignano, etwa 2500 Einwohner, ist der Geburtsort Enea Silvio Piccolominis (1405-1464) aus kleinem, verarmtem Landadel stammend. Als er 1458 zum Papst gewählt wurde, beschloß er, das Städtchen nach den Vorstellungen der Renaissance umzubauen und so entstand, teilweise schon zu seinen Lebzeiten, teilweise erst nach seinem Tode vollendet, um die Piazza Pio II. ein trapezförmig, perspektivisch angelegtes städtebauliches Ensemble sondergleichen: der mächtige dreischiffige Dom, der Palazzo Publicco, der Palazzo Piccolomini, der Bischofspalast. Alle Gebäude der Stadt wie auch viele in Siena tragen das Wappen der Piccolomini. Wenige Kilometer außerhalb der Stadt, die ab 1459 zu Ehren Pius’ II. nun Pienza genannt wurde, liegt die alte Pieve di Corsignano, seine Taufkirche.

Neben Pienza sind – wiederum großartig beeindruckend und schön in einem umfassenden ästhetisch-historischen Sinne – die Städtchen Montichello und Montepulciano, westlich des nun wahrhaft geschichtsträchtigen Lago Trasimeno. Montepulciano ist eine Gründung des etruskischen Herrschers Porsenna aus Chiusi. Die Stadt ist ein mittelalterliches Baudenkmal mit einem unvollendeten Dom, architektonisch einmaligen Toren, Türmen und Palästen, einer nach Volterra ebenfalls großartigen Festung der Medici und der berühmten Wallfahrtskirche Madonna di San Biagio südwestlich der Stadtgrenzen.

Als am Ende der Reconquista 1492 und danach die katholischen Könige Ferdinand II. und Isabella I. von Aragon und Kastilien die sephardischen Juden auf der iberischen Halbinsel verfolgen, vernichten und vertreiben ließen, flüchteten allein Zehntausende Sepharden mit ihren Familien an die französischen und italienischen Küsten des Mittelmeeres. So entstand in der großen Hafenstadt Livorno eine über Jahrhunderte bekannte sephardische Gemeinde. Weniger bekannt ist, dass im toscanischen Binnenland eine kleine sephardische Gemeinde in Pitigliano lebte. Dort entstand und besteht heute wieder ein Ghetto als Museum mit einer Synagoge: Piccola Gerusalemme genannt. Die Spuren sephardisch-jüdischer Religion, Kultur und Lebensweise sind noch und wieder erkennbar, so in der ganzen Toscana in sephardischen Familiennamen wie beispielsweise Nissim, S(Z)aporta, Toledano und anderen.

Um, östlich und südlich von Siena ist nicht nur das ‚Kernland’ dieses Teiles der Toscana, sondern vor allem des wohl berühmtesten und besten Weines Italiens, des Brunello, und zwar des Vino nobile di Montepulciano. Eine Flasche dieses tiefdunkelroten Weines mit seinen charakteristischen Aromen kostet das Tages- oder Wochenbudget eines Besuchers – je nachdem.

Beim Brunello Montalcino – ebenso gut, nicht ganz so teuer – kamen wir auf Alltägliches zu sprechen, so auch auf Silvio Berlusconi, den fast alle ‚irgendwie’ mögen und ebenso viele, meistens die gleichen verspotten oder gar verachten.

Mario und Maurilio meinten, dieser ladro habe eigentlich keinen richtigen Spitznamen, und wir beschlossen, angeregt durch den Brunello, für ihn einen passenden zu erfinden: Weil Berlusconi manchmal das eloquente Gebaren von Papa Benedetto, also des Papstes, manchmal die vulgären Attitüden (Gestik, Mimik, Rhetorik) Mussolinis, also des Duce, an sich habe, wurde beschlossen, aus beiden Wörtern eines zu bilden. ‚Ducepapa’ klang nicht, ‚Papaduce’ hingegen geradezu ‚italienisch’ melodiös. Die Rechte liegen bei den Wortschöpfern, ‚verantwortlich’ ist der Brunello.