13. Jahrgang | Nummer 14 | 19. Juli 2010

Robert Havemann: Marxistischer Dissident

von Axel Fair-Schulz

Ein Heiliger war er gewiss nicht und wollte es auch nicht sein. Robert Havemann war aber ein auβergewöhnlich mutiger Antifaschist im NS-Staat und später in der DDR ein marxistischer Dissident, der die “marxistisch-leninistische” Deutungshoheit der Parteioberen offen in Frage stellte. Dabei scheute Havemann keine persönlichen Risiken, was ihn ein Todesurteil der Nazis und Berufsverbot sowie Hausarrest seitens derer einbrachte, die den sozialistischen Gesellschaftsentwurf zu einer Parteidiktatur verkommen ließen.
Geboren 1910 in einer bildungsbürgerlichen Familie entschied sich Robert Havemann 1932 für die KPD, die er als die konsequenteste anti-nazistische deutsche Partei wahrnahm. Obgleich die KPD zu diesem Zeitpunkt bereits völlig stalinisiert war, legte er auf sein eigenes und unabhängiges Denken groβen Wert. Havemann schloss sich nämlich zugleich der Widerstandsgruppe Neu Beginnen an, welche KPD- und SPD-Politiker zu gemeinsamem und koordiniertem Widerstand gegen den Nazismus und seine konservativen Helfershelfer zu motivieren suchte. Leider zerschellte dieses wichtige Unterfangen an der Engstirnigkeit und den ideologischen Scheuklappen beider miteinander rivalisierender Arbeiterparteien.
Neben seinen politischen Aktivitäten entwickelte sich Robert Havemann zu einem anerkannten Chemiker. Nach seinem Studium der Chemie promovierte er zum Dr. phil. und war seit 1937 wissenschaftlicher Assistent am Pharmakologischen Institut in Berlin. 1943 habilitiert sich Havemann an der Berliner Universität. Neben seinen zahlreichen Patenten produzierte Havemann bis zu seiner Entlassung durch das SED-Regime zahlreiche akademische Publikationen. So waren es auch Havemanns wissenschaftliche Leistungen, die ihm zu NS-Zeiten das Leben retteten. Seine tiefe Verachtung des nazistischen Systems führte Havemann 1942 dazu, als Gründungsmitglied und schlieβlich Leiter der Widerstandsgruppe Europäische Union aktiv zu werden. Die Gestapo verhaftete ihn, und das Todesurteil wegen Hochverrates folgte schnell. Allerdings gelang es Havemanns Freunden und Kollegen, mit dem Hinweis auf Havemanns „kriegswichtige Forschungen“ immer wieder, eine Aufschiebung der Hinrichtung zu erwirken, bis ihn dann die Rote Armee aus dem Zuchthaus Brandenburg befreite. Diese lebensrettende Befreiung seitens der Roten Armee band Havemann nach eigener Auskunft an das stalinistische System, und er entwickelte sich zunächst zu einem glühenden Vertreter der im Nachkriegsdeutschland entstandenen DDR.
Mit seiner Vita als Widerstandskämpfer und international anerkannter Wissenschaftler wurde Havemann zuerst Direktor der Restbestände der Kaiser-Wilhelm-Institute in West-Berlin. Auf Grund seiner offensiv vorgetragenen kommunistischen Überzeugungen drängten ihn jedoch konservative und restaurative Kräfte aus Amt und Würden. Havemann siedelte schlieβlich nach Ost-Berlin über und wurde dort mit Ehren und akademischen Positionen honoriert – solange wie er sich der jeweils herrschenden Parteilinie anzupassen bereit war. Schmerzlich lernte Robert Havemann, Mitglied der DDR-Volkskammer, Dekan für Studentenangelegenheiten und Professor an der Humboldt-Universität, wie weit die humanistischen Ideale des Sozialismus und die Realität in einem von einer stalinistischen Kaderpartei beherrschten Land auseinanderklafften. 1959 noch mit einem DDR-Nationapreis ausgezeichnet, fiel Havemann mit seinem Vortrag „Hat die Philosophie den modernen Naturwissenschaften bei der Lösung ihrer Probleme geholfen?“ – gehalten 1962 in Leipzig – bei der „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten“ endgültig in Ungnade. Da er nicht bereit war, zu Kreuze zu kriechen, sondern seine Kritik der „marxistisch-leninistischen“ Staatsideologie sogar noch ausbaute, flog Havemann widerum aus Amt und Würden. Berufsverbot für Andersdenkende gab es eben leider in beiden deutschen Staate. Die sich antifaschistisch nennende DDR-Führung verfügte sogar, daβ der einstige Todeskandidat und Widerstandskämpfer Robert Havemann von der Liste der antifaschistischen Widerstandskämpfer gestrichen und er sowie seine Frau Katja unter Hausarrest gestellt wurden.
Versuche, Robert Havemann zu vereinnahmen und damit seine komplexen und oft zeitgebundenen Ansichten auf die eine oder andere Art zu reduzieren, gab und gibt es nicht wenige. Die einen meinten, in Robert Havemann hauptsächlich den pro-westlichen Gegner des „SED-Staates“ und „Bürgerrechtler“ zu sehen, und ignorierten oder relativierten dabei Havemanns marxistisches Selbstverständnis, während andere Havemann im ideologischen Dienste von CIA und BND wähnten. Solche etwas infantilen Sichtweisen zirkulieren noch immer, wie Robert Allertz’ Schmähschrift „Sänger und Souffleur: Biermann, Havemann und die DDR“ oder sowie zahlreiche Feuilletons des Mainstream-Blätterwaldes unterstreichen.
Das zentrale geistige und philosophische Erlebnis im Leben Havemanns war der Marxismus, manchmal mechanistisch verengt und zeitweise sogar stalinistisch entstellt. Aber Havemann befreite sich immer wieder selbst vom Dogmatismus und begriff, daβ ein authentischer Marxismus nicht ein Sammelsurium ewiger Wahrheiten sein kann, sondern ein ständiges Befragen und Hinterfragen der eigenen Überzeugungen einschlieβen muss. Folgerichtig stand auch einer seiner Beiträge für DIE ZEIT unter der Überschrift „Ja ich hatte Unrecht: Warum ich Stalinist war und Antistalinist wurde“.
Da er unter den repressive Umständen der DDR weitgehend von den Diskussionen und Debatten kritischer Marxisten jenseits des „Eisernen Vorhangs“ isoliert arbeiten muβte, machte sich Havemann mehr als politisch-philosophischer Essayist einen Namen denn als systematisch denkender Philosoph. Sein wohl bekanntestes Buch ist „Dialektik ohne Dogma“, welches auf seinen Vorlesungen über das Verhältnis zwischen marxistischer Philosophie und den Naturwissenschaften beruht. Dem folgten andere, teils autobiographische, teils essayistische Arbeiten, wie „Fragen-Antworten-Fragen – aus der Biographie eines deutschen Marxisten“, „Ein deutscher Kommunist: Rückblick und Perspektiven aus der Isolation“ sowie „Morgen: Industriegesellschaft am Scheideweg“. Letzteres Buch thematisiert ökologische Fragen innerhalb und auβerhalb des marxistischen Rahmens.
Robert Havemann war ein Humanist und Bürgerrechtler, der die Diktatur des SED-Parteiapparates offen herausforderte. Diese fraglos richtige Feststellung beleuchtet aber nur eine Facette in seinem Denken und Handeln. Havemann kämpfte nicht nur um eine weltanschaulich offene und pluralistische Gesellschaft, sondern auch um ein sozial gerechtes und ökologisch ausgeglichenes Gemeinwesen – eben um eine humanistisch-sozialistische Gesellschaft. Er verstand, daβ weder die SED-Diktatur noch neo-liberale “Sachzwänge” – vulgo der Großangriff der Unternehmerinteressen auf demokratische Institutionen und Prozesse, mitgetragen von den neuen Blockparteien CDU-SPD-FDP-Grüne – einer wirklichen Demokratie verträglich sind. Ohne in idealistische Spekulationen abzugleiten, ist davon auszugehen, daβ Demokratie als wirkliche Volksherrschaft zuallerest eine Demokratie von Unten sein muβ – und damit eben nicht die Herrschaft einer Partei oder aber der Konzerne. Mit dieser Erkenntnis steht Havemann in der noblen Tradition von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.
Robert Havemann würde sich an unserer heutigen Welt reiben. Neo-koloniale Kriege um Wirtschaftsinteressen – wie ein gewesener Bundespräsident unvorsichtigerweise ausgeplaudert hat – sowie die schamlose Ausbeutung von Menschen und Natur seitens der Herrschenden dieser Welt hätten Havemann sicher nicht nur angewidert, sondern zum aktiven Widerstand herausgefordert. Vielleicht wäre er sogar erstaunt, wie sich frühere Weggefährten und Freunde, genannt seien hier nur Wolf Biermann und Rainer Eppelmann, mit den jetzt herrschenden Verhältnissen arrangierten oder aber vor ihnen geistig und intellektuell kapitulierten. Und damit stehen auch wir in der Pflicht, Robert Havemann nicht als zahnloses und harmloses Denkmal verstauben zu lassen, sondern uns an ihm produktiv zu reiben und damit seinen Geist und seine Haltung auf uns wirken zu sehen. Havemann war zu Lebzeiten den jeweils Herrschenden ein Dorn im Auge. Sand im Getriebe der die heutige Welt beherrschenden Gruppen und Klassen sollten in seinem Sinne auch wir sein. Also auf ins zweite Jahrhundert Robert Havemann!

Robert Havemanns Geburtstag jährte sich am 11. März dieses Jahres zum 100. Mal. Von Axel Fair-Schulz erscheint demnächst eine Robert-Havemann-Biographie im Berliner Trafo Wissenschaftsverlag.