Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 15. September 2008, Heft 19

In tempore belli (X)

von Erhard Crome

Michail Gorbatschow, einst Generalsekretär der allbeherrschenden Kommunistischen Partei der Sowjetunion und letzter Präsident der Sowjetunion, dann Friedensnobelpreisträger, Freund Kohls und Genschers sowie Festredner in deutschen Bierzelten zu Anlässen der deutschen Einheit, war der Erfinder des »Neuen Denkens«. Er dachte, die Welt würde gut, wenn nur der Kommunismus verschwindet, und meinte, er könne den Weltfrieden schaffen, indem er aufsteht von dem Schachbrett des Kalten Krieges, auf dem zuvor jeder Zug der einen Seite einen der anderen nach sich zog, und die Partie sei einvernehmlich zu Ende. Der Gegenspieler, der damalige US-Präsident Bush sen. dankte höflich und schob die Figuren so zurecht, daß behauptet werden konnte, der Westen habe gewonnen. Seither treibt »Gorbi« um, daß zwar er als Person im Westen immer mal wieder freundlich behandelt, aber Rußland mit Druck und Einkreisung begegnet wird.
In diesem Sinne schrieb er im Frühjahr einen Brief an seine »Freunde, die deutschen Journalisten«. Es gibt ein ständiges Forum deutscher und russischer Repräsentanten mit jährlich stattfindenden Diskussionsrunden, den »Petersburger Dialog«, das von dem damaligen Bundeskanzler Schröder und dem russischen Präsidenten Putin eingerichtet wurde. Dieses Gremium hat einen deutschen und einen russischen Lenkungsausschuß mit Vorsitzenden. Auf der deutschen Seite ist das seit Angela Merkel Lothar de Maizière, der letzte Ministerpräsident der DDR. Wenn man weiß, wie die West-CDU ihn einst ausgebootet hatte, nachdem er seine Rolle zur Übergabe der DDR gespielt hatte, kann man sich ungefähr vorstellen, für wie wichtig die hierzulande Herrschenden dieses Gremium halten. Auf russischer Seite ist Gorbatschow dieser Vorsitzende.
Nun also der Brief. Darin beschwerte er sich darüber, was für ein Rußland-Bild in den deutschen Medien vermittelt werde: »Beim aufmerksamen Blick auf die Flut von Veröffentlichungen in Deutschland wird man jedoch schwer den Eindruck wieder los, als ob man es mit einer gezielten Kampagne zu tun hat, als ob alle aus einer einzigen Quelle schöpften, die eine Handvoll Thesen enthält (in Rußland gebe es keine Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt; eine arglistige Energiepolitik werde durchgesetzt; die Machthaber drifteten immer weiter in Richtung Diktatur ab – und so weiter und so fort). Diese Thesen werden in verschiedenen Tonarten wiederholt. Die Zeitungsmacher scheinen auch keinerlei Interessen jenseits dieser Aussagen zu haben.« Und wer aus der Reihe tanzt, wird abgestraft.
Wenn man in den vergangenen Wochen verfolgt hat, wie durch die Medien aus dem Kriegsverbrecher Saakaswili – der in einem Teil des von ihm beanspruchten Landes, nämlich in Südossetien, des Nachts ohne Vorwarnung die Zivilbevölkerung mit Mörsern, Raketen und anderen schweren Waffen hat zusammenschießen lassen – das Opfer einer »russischen Aggression« gemacht wurde, kann man Gorbatschows Aussagen nur als Tatsachenfeststellung bestätigen. In der Tat wäre es für eine kritische Politik- und Medienwissenschaft schon interessant zu untersuchen, wie in einem Lande wie dem unseren ohne eine zuständige »Abteilung Agitation und Propaganda« und ohne eine institutionalisierte Zensurbehörde eine solche Gleichschaltung erfolgt. Der bekanntermaßen existierende »CIA-Medien-Komplex«, das heißt die Tatsache, daß der US-Geheimdienst weltweit – also auch in Deutschland – Journalisten schmiert, damit sie das schreiben, was dem Dienst und seiner Regierung genehm ist, reicht zur Erklärung für das Ausmaß dieses Gleichklangs nicht aus.
Dennoch bleibt Gorbatschow an der Oberfläche, wenn er sich nur über das Medienphänomen äußert, ohne über die dahinterstehenden Interessen zu reden. Er sollte sich erinnern, daß der alte Bush ihm am 9. Februar 1990 seinen Außenminister Baker geschickt hatte, um ihm die Zustimmung abzuhandeln, das ganze Deutschland in die NATO aufzunehmen; als Gegenleistung werde die NATO »ihr Territorium um keinen Zentimeter in Richtung Osten« ausdehnen. Die früheren Staaten des »Warschauer Paktes« sind heute alle in der NATO und mit den baltischen Republiken auch drei ehemalige Sowjetrepubliken; Georgien und die Ukraine wären die Nr. 4 und 5. Das ist eine sich verengende Einkreisung Rußlands, und dazu gehört auch die Stationierung US-amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Polen und Tschechien. Das US-Militär in Afghanistan und Irak ist ebenfalls Teil dieser neuerlichen Einkreisung; zugleich ist es Teil der »Neuordnung« des Nahen und Mittleren Ostens und der ebenfalls bezweckten Einkreisung Chinas. Der Konflikt im Kaukasus, die beabsichtigte Aufnahme Georgiens in die NATO stehen in diesem Zusammenhang.
Insofern gilt: Je mehr Vertreter der gegenwärtigen US-Administration und deren Wasserträger in Europa davon reden, es werde einen neuen Kalten Krieg des Westens gegen Rußland nicht geben, desto stärker keimt der Verdacht, daß genau daran gearbeitet wird. Da hilft auch das russische Bekunden wenig, Rußland fürchte einen neuen Kalten Krieg nicht. Der französische Außenminister redet von »Sanktionen« gegen Rußland, um den Druck zu erhöhen, läßt dann aber sagen, das hätte er nicht gesagt. Es soll starke Erklärungen geben, wie gesagt: der Solidarität mit einem aktiven Kriegsverbrecher und dessen Wiederaufrüstung. Das große Spiel um Öl und Gas und Macht wird größer. Und damit auch die Gefahr eines »großen« Krieges, auch wenn alle erklären, sie wollten ihn nicht.
Der Präsident Estlands, Toomas H. Ilves, ist einer der stärksten Befürworter jener Saakaswili-Solidarität. Er sagte, bezogen auf Rußland: »Eine strategische Partnerschaft ist möglich mit Ländern, die unsere Werte teilen.« Ilves übrigens wurde in der Emigration geboren, studierte in den USA und arbeitete bis zum Ende der Sowjetunion bei »Radio Free Europe«. 1991 kam er nach Estland, wurde dessen Außenminister und schließlich Präsident. Denkungsarten haben Gründe.
Was aber ist eine »strategische Partnerschaft«? Ein politisches und militärisches Bündnis? Oder eine geordnete, friedliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil? Das nannte man früher »Friedliche Koexistenz«. Im Westen scheinen heute viele der Herrschenden und Regierenden diesen Unterschied vergessen zu haben. Der Westen will eine Welt, in der alle sind wie er selbst. Die Beziehungen zur islamischen Welt wurden durch Kriege und Kriegsdrohungen auf den wohl tiefsten Stand gebracht, seit Papst Urban II. im Jahre 1095 zum Kreuzzug gerufen hatte.
Die politischen Beziehungen zu China wurden im Vorfeld der Olympischen Spiele zielgerichtet verschlechtert, nun also die zu Rußland, und gegenüber den linken Regierungen in Lateinamerika werden neue militärische und geheimdienstliche Aktionen auf den Weg gebracht. Das riecht nach weiteren Spannungen und künftigen Kriegen. Es sei denn, es walten Vernunft und Augenmaß. Da wird dann Gorbatschows Naivität fast wieder sympathisch.