von Jörn Schütrumpf
Seit einigen Jahren begeht in Lateinamerika Staat für Staat sein „Bicentenario“, den 200. Jahrestag der Befreiung vom spanischen Kolonialjoch. Die Entkolonialisierung, vor allem und nicht zuletzt die Entkolonialisierung der Köpfe, steht aber vielfach noch aus. Immerhin reden im Moment in einigen Andenstaaten die Regierungen von ihr. In Bolivien wurde sogar ein entsprechendes Vizeministerium eingerichtet.
Wie schwer es ist, sich vom Kolonialerbe zu befreien, zeigt ein Vergleich: Briten, aber auch Franzosen beuteten den Norden Amerikas aus und steckten ihre Diebesbeute in die ursprüngliche Akkumulation, die es vor allem England gestattete, seine Wirtschaft auf die kapitalistische Produktionsweise umzustellen und eine ungeheure Dynamik zu entfesseln. Auch den einstigen Kolonien, den heutigen USA und Kanada, gelang dieser Sprung – auf Kosten der Eingeborenen, die systematisch verfolgt, ermordet und am Ende in Reservate gesperrt wurden. Die USA wurden der eifrigste Schüler ihre „Mutterlandes“.
Anders in Lateinamerika. Der spanische und portugiesische Kolonialismus saugte zwar nicht weniger brutal als der englische, französische und holländische (in Ostindien) seine Kolonien aus, verzehrte jedoch die Beute. Es war ein Kolonialismus, der nicht auf Akkumulation, sondern auf die Revenue abstellte und in Spanien und Portugal den Übergang ins bürgerlich-kapitalistische Zeitalter nicht beförderte, sondern um mindestens 150 Jahre verzögerte.
Ganz haben sich die lateinamerikanischen Staaten von diesem Wirtschaftsmodell nie emanzipiert. Latifundistas und Militärdiktatoren verzehrten, was sie aus ihren Staaten pressen konnten; heraus kam bestenfalls ein von Europa und den USA abhängiger Kapitalismus. (Nur Brasilien und vielleicht noch Argentinien konnten dieses Kolonialerbe in schmerzhaften Prozessen schrittweise abschütteln; heute ist Brasilien dabei, zur lateinamerikanischen Vormacht und zusammen mit den einstigen Kolonien Indien und China zur neuen Werkstatt der Welt aufzusteigen).
Dass die Tradition aller toten Geschlechter tatsächlich wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden lastet (Marx), zeigt ein Blick nach Kolumbien und Venezuela, wo seit 1927 das Öl aus der Erde sprudelt. Auch nach der Vertreibung der Spanier blieb es bei der Maxime Revenue statt Akkumulation, nur flossen die Früchte nun an die einheimischen Oligarchien. Während sie sich in Kolumbien mit Terror und systematischer Ermordung politischer Gegner – die fängt schon bei Richtern an, die nicht genehme Untersuchungen führen – bis heute an der Macht halten und das Land an multinationale Konzern ausgeliefert haben, lief in Venezuela die Geschichte aus dem Ruder. Das an sich reiche Land war so heruntergewirtschaftet, dass 1998 ein ehemaliger Putschist regulär die Wahlen gewinnen konnte.
Ökonomisch schwimmt der postulierte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ im alten Becken; nur dass die Gewinne nicht mehr einer Oligarchie, sondern ihren Opfern zugute kommen. Akkumulation findet bestenfalls unsystematisch statt; auf den Revenue-Kolonialismus und Revenue-Kapitalismus folgte ein Revenue-Sozialismus – mit allen Folgen, die vom sowjetischen Sozialismusmodell nur allzu vertraut sind: Es wird mehr verteilt als vorhanden ist, also wird von der Substanz und auf Kosten der Zukunft gelebt. Neuerdings reichen die Mittel nicht mal mehr für pünktliche Rentenzahlungen – stattdessen erhalten die Rentner Anteilsscheine an der Erdölindustrie – mit der Aussicht auf künftige Dividende.
Viele venezolanische Linke, die sich schon lange vor 1998 in verschiedenen Bewegungen organisierten, wurden seit 2007 verprellt. Mit der Schaffung einer „Einheitspartei“ als Reaktion auf das gescheiterte Referendum glaubte die Regierungslinke, sich von den „Querulanten“ an der Basis endlich befreien zu können. Das funktioniert natürlich nicht. Im nächsten Oktober stehen Präsidentenwahlen an; daran wird auch nichts ändern, dass Chavez bis dahin ohne parlamentarische Kontrolle regieren darf. Teil des Wahlkampfes ist ein chinesischer 30 Milliarden-Dollar-Kredit, in den nächsten dreißig Jahren mit Erdöl abzubezahlen. Verwendet wird er für die Bedürftigen, die auf Bezugsscheine chinesische Kühlschränke und Klimaanlagen erwerben dürfen – Revenue-Sozialismus pur.
Da das für einen Wahlsieg wohl nicht reichen wird, hat die Regierungslinke begonnen, ihre Fühler zu den von der Fahne gegangenen Linken auszustrecken: Seit einigen Wochen wird an einer Volksfront gezimmert, allerdings nur halbherzig. Das erinnert an die Situation der schwachen kommunistischen Parteien in Polen, Ungarn, der DDR und in anderen staatssozialistischen Staaten nach 1945, als auf dem Umweg über Volksfronten alle scheinbaren und wirklichen Konkurrenten unterworfen wurden. Das Ergebnis, ein nur von einer Fraktion von oben eingeführter Sozialismus, und zwar von der, die sich in einer Partei straff hierarchisch organisierte, mündete überall letztlich wieder in kapitalistischen Verhältnissen. Wie unfähig ein solcher Sozialismus ist, sich in den Gesellschaften einzuwurzeln, zeigt sich spätestens seit 1989 zwischen Elbe und Pazifik in allen Staaten.
Immer noch hat das bürgerliche Lager dem linken die Einsicht voraus, dass zwar immer nur eine Fraktion regieren, sie sich aber nur halten kann, wenn sie die Interessen aller Fraktionen berücksichtigt. Zugegeben, für diese Erkenntnis hat das bürgerliche Lager mehr als 200 Jahre benötigt, beginnend mit der englischen Revolution. Durchgesetzt wurde sie in Frankreich, dessen bürgerliche Fraktionen sich zwischen 1789 und 1871 so stark bekriegten, dass ihr System zweimal nur durch bonapartistische Diktaturen gerettet werden konnte. Die Pariser Kommune mit ihrer Drohung, die gesamte bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft zu überwinden, hat diese Maxime dann jedoch endgültig und unvergesslich ins politische Selbstverständnis des bürgerlichen Lagers eingebrannt – weltweit.
Die Linke hingegen steckt trotz vieler sozialdemokratischer Regierungen, trotz russischer Revolution und Stalinismus, trotz 1989 und neoliberaler Gesellschaftszerstörung immer noch dort, wo das französische Bürgertum 1830 stand – und das nicht nur in Venezuela, sondern weltweit. Auch hier gilt: Niemand werfe den ersten Stein, sondern schaue, dass er die eigene Nase zu fassen bekommt.
Schlagwörter: Jörn Schütrumpf, Kolonialerbe, Linke, Revenue, ursprüngliche Akkumulation, Venezuela