von Heinz W. Konrad
Man kann sich diesem Buch gewiss aus verschiedenen Blickwinkeln und mit divergierenden Motiven nähern – ohne die Kenntnis der DDR zumindest in der zweiten Hälfte ihres Daseins wird es indes nicht abgehen, wenn man Volker Brauns Arbeitsbuch von 1977 bis 1989 liest und die Notate verstehen will.
Nicht, dass dieses Werktagebuch westelbisch sozialisierten Lesern nichts zu geben hätte, bewahre. Aber das ganze Elend eines Denkers, dem es ging wie vielen Denkern und dies keineswegs nur unter den Schriftstellern, vermag wohl nur nachzuempfinden, wem die Geistfeindlichkeit der selbsternannten Sachwalter der „besten Sache der Welt“ noch immer in den Knochen steckt. Die Sachwalter, die angetreten waren, den „Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.“ (Friedrich Engels) zu wagen, um immer dann das Gegenteil zu praktizieren, wenn dieser Sprung zu einer Landung auch nur knapp neben der vorgezeichneten Linie anzusetzen drohte.
Es blutet einem das Herz, wenn man nachliest, welche Art Steine einem so intelligenten wie sprachmächtigen Literaten wie Volker Braun von einer Macht in den Weg gelegt worden sind, deren Ziele er doch prinzipiell bejahte und mit seiner Kunst zu befördern gedachte. Aber eben mit einer kritischen Kunst, einer Kunst, derer revolutionäre Bewegungen, als die sich die DDR explizit verstand, mehr bedürfen als jede andere, wollen sie nicht schon an ihren Kinderkrankheiten dahinscheiden. Das Bewusstsein, dass dieser Tod nahe war, hat Volker Braun in einem Tagebuch-Notat vom Juni 1988 knapp schreiben lassen: „die partei hat nur die wahl zwischen der revolution von oben und der revolution von unten.“ Es ist eine Revolution von unten geworden, und die hat die Partei samt ihrer Allmachtsansprüche zur Geschichte gemacht…
Gewiss: Geist und Macht haben sich in der Geschichte nahezu allzeit als Antagonismen erwiesen, und um ein „Alleinstellungsmerkmal“ sozialistischer / kommunistischer Machtausübung handelt es sich dabei keineswegs. Unvergessen zum Beispiel Ludwig Erhard, der immerhin als Bundeskanzler 1965 über 25 westdeutsche Autoren, die ein Plädoyer für einen Regierungswechsel veröffentlicht hatten, urteilte: „Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an!“ Das war ebenso klar wie übel – Manuskripte beim Staat zur Genehmigung vorzulegen, folgte daraus für die Dichter aber nicht.
In der DDR ist das Erhard-Zitat seinerzeit eifrig – und auch keineswegs zu Unrecht – genutzt worden, um die Geistfeindlichkeit der „Bonner Ultras“ zu belegen. Nur eben: Dies war im gleichen Jahr, als das berüchtigte 11. Plenum des ZK der SED im DDR-Kulturbetrieb zu einem Kahlschlag ansetzte, von dem sich dieser lange nicht, und eigentlich nie richtig erholt hat. Zu den Autoren, deren Bücher und/oder Stücke damals für lange oder gar bis zum Ende der DDR etwa wegen „Nihilismus“ oder „Skeptizismus“ verboten worden waren, gehörte auch Volker Braun.
Weder er noch Suhrkamp haben dem hier in Rede stehenden, 2009 erschienenen Buch ein erklärendes Vor- oder Nachwort beigegeben. Wem daran gelegen ist zu erfahren, wer Volker Braun heute ist, muss sich schon darum bemühen, sich sein Œuvre jenseits des DDR-Endes anzueignen. Und er wird sehen, dass Braun – anders als andere, um nur auf den grade 75 gewordenen Wolf Biermann zu verweisen, mit dessen Veröffentlichung der „Drahtharfe“ im Westen sich das besagte „Kahlschlagplenum“ ebenfalls beschäftigt hatte –bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nicht stehen geblieben ist. Sein öffentlich- kritisches Engagement hat nicht am 3.Oktober 1990 geendet. Brauns Zorn auf das, was, um es freundlich zu sagen, schief lief im Realsozialismus, hat ihn nie dazu verführt, sich in eine allgegenwärtige Opferattitüde zu begeben und dort zu verharren – so sehr ihm diese auch abgenommen hätte, wer das kennt, was er in diesem Buch festgehalten hat. Volker Braun hat mehr gewollt als das. Er will Zeitzeuge sein – nüchtern in der Beurteilung des in der und durch die Welt Erfahrenen und Erlebten. Aber nicht ohne eigenes Engagement; auch um die Fehlbarkeit wissend, die zu jedermanns Menschenwerk gehört.
Warum also ist es gut, dieses Tagebuch heute zu lesen? Um eigenes Denken weiter zu schulen, auf dass die dort beschriebenen Erfahrungen – vielleicht, hoffentlich – linken Utopien oder gar Realitäten erspart bleiben. Denn, noch immer gilt, was Heine in seiner „Lutetia“ in diese Zeilen gefasst hat: „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.“
Volker Braun, Werktage I – Arbeitsbuch 1977-1989, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 397 Seiten, 29,90 Euro
Schlagwörter: 11. Plenum, DDR, Suhrkamp Verlag