von Alfons Markuske
Das aktuelle Altarbild in der Sankt Matthäus-Kirche am Berliner Kulturforum – mit dem Titel „Um Mitternacht“ – dürfte mancher als Provokation empfinden. Gemalt von einem ungetauften Heidenkind* thront da ein im Wortsinne bildschöner Christus in der Pose des Weltenrichters in der Mitte der Tafel, dessen Antlitz noch dazu die Vermutung nahe legt, dass er in verwandtschaftlichem Verhältnis zum Maler steht. Zu Jesus’ Rechter – ein Schwarm Fische (in der christlichen Ikonografie ein Symbol für Gläubige), die sich auf den Heiland zu bewegen, deren vorderste sich aber in blinkende Messer verwandelt haben, die auf den Herrn zielen. Und zu dessen Linker – ein kopfüber herabstürzender, ziemlich altersschwacher Heiligen-Torso vor einer offenbar toten Weide. Die birgt in einer Gebärmutter ähnlichen Höhlung am Fuß ihres Stammes – als vielleicht einziges zu Hoffnung Anlass gebendes Symbol auf diesem Gemälde – ein ungeborenes Kind.
Den Stil und die vollendete handwerkliche Kunst des Malers hat der langjährige Kunstkritiker der FAZ, Eduard Beauchamp, einmal dahingehend beschrieben, dass, hinge man seine Bilder in Altmeister-Säle der Museen, etwa in ein Kabinett Florentiner oder niederländischer Manieristen der Zeit um 1520, sich ein Ähnlichkeitseffekt einstellte. Die Rede ist von Michael Triegel**, einem noch vergleichsweise jungen Spross der Leipziger Meistermalermanufaktur, die unter anderem mit dem Namen Werner Tübkes verbunden ist. Bei dessen Schülern Arno Rink und Ulrich Hachulla holte sich Triegel entscheidendes Rüstzeug.
Wenn auch Beauchamps Vergleich der Handschrift Triegels angemessen gerecht wird – viele seiner Bildinhalte wären zu den Zeiten der Manieristen blasphemische Häresien gewesen. Etwa sein Karfreitagsstillleben, das in vollkommener Tromp-l’oel-Manier ein blutiges, an ein Kreuz genageltes Herz und drei tote Fische zeigt. Gleichwohl hat sich die Inquisition deswegen nicht auf die Spuren des Malers geheftet – im Gegenteil: Triegels Werke werden im kirchlichen Raum gezeigt, er hat im Auftrag der Diözese Regensburg den amtierenden Papst porträtiert und jüngst erst einen kompletten Altar für die Gemeinde in Dettelbach (Franken) fertig gestellt. Mindestens in dieser Hinsicht haben die Zeiten und die Kirchen also seit dem Mittelalter Fortschritte gemacht.
„Um Mitternacht“ wie auch das Karfreitagsstillleben sind Teil einer Exposition in der Sankt Matthäus-Kirche, die insgesamt 15 Tafelbilder Triegels versammelt. Darunter neben etlichen Stillleben auch eine Kreuzigung, die zwar ein Motiv von Diego Velasquez zum Vorbild hat, aber auf explizit Triegelsche Weise verrätselt ist, indem etwa das Antlitz der Jesusfigur von einem durchscheinenden Blatt Papier verdeckt ist, wie es zum Beispiel bei Gemälderestaurationen zum Einsatz kommt, und indem zu Christus’ Füßen in einer offenen Holzkiste ein auf Stroh und Windeltücher gebetteter nackter Säugling liegt, der in babytypischer Weise mit seinen Zehen spielt. Wegen dieser und vieler vergleichbarer Kompositionen ist Triegel nicht zuletzt mit dem Surrealismus in Verbindung gebracht worden. Mit dem aber hat er, nach eigenen Worten, „nicht viel am Hut“. Und tatsächlich beziehungsweise im Unterschied zum Surrealismus eines Dali oder Magritte stehen die Bildinhalte und Symbole bei Triegel im Dienste der Auseinandersetzung mit fassbaren Ideen, häufig christlicher Provenienz oder Konnotation, die den Inhalt vieler seiner Bilder ausmachen. Das ist auch bei Triegels Abendmahl – ebenfalls in der Ausstellung zu sehen – der Fall, bei dem ein blutrot und orange gewandeter, aber gesichtsloser (sich auch selbst verloren habender?) Heiland verlassen und allein an der langen Tafel sitzt, deren linnenes oder damastenes, blendend weißes Tischtuch gerade dem Wäscheschrank entnommen und auseinander gefaltet worden ist. Auf der Tafel – ein paar leere Gläser, ein Ei und eine reife rote Kirsche, im Mittelalter unter anderem Symbol für sinnlichen Genuss nicht minder denn für den Sündenfall.
Am 23. November gab der Künstler in einem Gespräch mit Christhard-Georg Neubert, Direktor der Stiftung Sankt Matthäus und Kunstbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Auskunft zu seinen Werken und seinem Wirken. Zur Selbstexegese einzelner Bilder ließ Triegel sich zwar auch durch Fragen aus dem erfreulich zahlreichen Auditorium nicht verleiten, denn, so der Künstler, er wolle dem Betrachter nicht dessen Aufgabe nehmen. Zur Mutmaßung allerdings, dass seine Werke sich ob ihrer opulenten Symbolik nicht letztlich vor allem an ein bildungsbürgerliches Publikum wendeten, nahm er mit Verve Stellung: Was eigentlich spräche dagegen, das Publikum auch intellektuell zu fordern? Eine Attitüde jedenfalls, wie man sie insbesondere bei Politikern bisweilen erlebe, der zufolge man die Menschen dort abholen müsse, wo sie ständen, sei reichlich überheblich, denn sie spiegele vor, dass man genau wisse, wo andere ständen, und ließe implizit überdies durchscheinen, dass das jedenfalls auf einem niedrigeren Niveau sei als dem eigenen. Im Übrigen wolle er mit seinen Bildern keine Antworten geben, sondern Fragen stellen. Er mache, „auch wenn das jetzt doof klingt, Angebote“ – gegebenenfalls auch dazu, etwas über Ikonografie und Symbole zu lernen.
Von da kam Triegel auf sein Kunstverständnis zu sprechen und auf den Entstehungszusammenhang von Kunst und Kult. Im alten Griechenland seien die Menschen nicht in den Tempel gegangen, um sich den neuen Praxiteles anzusehen, sie seien dorthin gegangen, um ihren Göttern zu huldigen. Kunst habe insofern eine originär funktionale Dimension gehabt, eine Beziehung zum Alltagsleben der Menschen. Davon sei in den vergangenen 100 Jahren viel verloren gegangen. Ihm aber sei diese Dimension ausnehmend wichtig.
Bei der Beantwortung der Frage, wie er mit dem Urteil lebe, mit seiner altmeisterlichen Malerei nicht Avantgarde zu sein, blitzt Ironie auf. Was heute Avantgarde sei, das müsse vielleicht erst noch definiert werden. Der Begriff jedenfalls entstamme der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und sei im Zusammenhang mit jenen Künstlern geprägt worden, die dann Impressionisten genannt wurden und deren Anliegen es war, mit der vorherrschenden, als steril empfundenen Salonkunst zu brechen. Die seien dann auch in die Salons eingeladen worden und mussten sich ihre eigenen Räume schaffen. Seither sei ein konstituierendes Element von Avantgarde, mit vorherrschenden Erwartungen an die Kunst zu brechen. An diesem Punkt überließ es Triegel dem Auditorium, den Bogen zu manchen zu schlagen, die sich heute Avantgarde nennen oder vom offiziellen Kulturbetrieb so bezeichnet werden.
Apropos offizieller Kulturbetrieb: Der Berliner hat den Maler, der Werkausstellungen unter anderem bereits in Dresden, Würzburg und – die bis dato umfangreichste – erst unlängst im Museum der bildenden Künste zu Leipzig hatte, bisher ignoriert. Umso dankbarer darf man der Stiftung Sankt Matthäus sein, die Triegel nach 2003 nun bereits zum zweiten Mal ausstellt.
* – So apostrophierte Ingo Langner den Maler in der evangelischen Wochenzeitung „die Kirche“.
** – Siehe auch Blättchen 21 / 2010: „In der Villa von Werner Tübke“.
Die Ausstellung „per visibilia ad invisiblia“ des Malers Michael Triegel ist in der Sankt Matthäus-Kirche im Kulturforum Berlin noch bis zum 15. Januar zu sehen. Dienstag bis Sonntag, 12 – 18 Uhr; der Eintritt ist frei.
Die parallel dazu im Evangelischen Zentrum in Berlin-Friedrichshain, Georgenstraße 69, Haus 2, Etage 4 gezeigten Grafiken Triegels sind leider nur zu den üblichen Bürozeiten von Montag bis Freitag zu besichtigen, nicht also an Wochenenden.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Arno Rink, Leipzig, Manierismus, Michael Triegel, Ulrich Hachulla, Werner Tübke