14. Jahrgang | Nummer 22 | 31. Oktober 2011

Reichtum, prekäre Löhne und Psychosen

von Ulrich Scharfenorth

Wir müssen schleunigst mit drei Legenden aufräumen. Zunächst mit der, dass Multimillionäre kein Problem darstellen, weil sie ja die Wirtschaft ankurbeln, mit der zweiten, dass wir durch immer intensivere Arbeit und sinkende Löhne den Herausforderungen der Globalisierung trotzen können und schließlich mit der, dass zunehmende psychische Erkrankungen in der Gesellschaft durch bewussteres Leben und Handeln gestoppt werden können.
Als ich heute, am 12. Oktober 2011, las, wie die Rheinische Post über Düsseldorfer Milliardäre und Millionäre befindet, überkam mich wie stets nicht etwa Sozialneid, sondern nur Wut. Vor allem darüber, dass man deren Konsum- und Investitionsaktivitäten als nützlich deklarierte. Dabei weiß doch jeder, dass diese Leute nur winzige Teile des ihnen zuwachsenden Geldes selbst verbrauchen können. Und ebenso wenig in die Realwirtschaft investieren können oderwollen, wie das gesamtgesellschaftlich sinnvoll wäre. Die Realwirtschaft wächst für große Investments viel zu langsam, und verdienen lassen sich da auch nur Peanuts. Folglich gibt es Abmachungen der Vermögenden mit den Banken, wobei letztere das große Geld fast gänzlich in internationale, hoch spekulative Geldmärkte (in Hedge-Fonds, außerbörsliche Zertifikate- und Derivate-Märkte, Kreditausfallversicherungen und so weiter) einbringen. Dort gelten Ackermannsche Ziele von bis zu 25 Prozent Renditeerwartung. Die aus diesen Geschäften resultierenden Gewinne teilen die Banken mit den Anlegern, eben besagten Milliardären und Multi-Millionären, deren Vermögen weiter, und zwar exponentiell, wachsen und im nationalen Rahmen immer schlechter angelegt werden können – was die Privatisierung bislang staatlicher Institutionen und Dienstleistungen befördert, den Kreislauf auf spekulativen Geldmärkten neuerlich anheizt und damit das internationalen Finanzsystems zunehmend bedroht. Kleinen und mittleren Unternehmen hingegen wird der Zugang zu Krediten für den Aufbau und die Erweiterung ihrer Unternehmen seit Basel II zunehmend erschwert, weil die Banken ihr Geld lieber dort anlegen, wo es höhere Renditen verspricht. Bezeichnend ist, dass dem zunehmenden Reichtum einiger Weniger, die programmierte Armut Vieler gegenübersteht. 2008 waren in Deutschland 16 Prozent der Menschen von Armut bedroht, wobei jeder dritte von ihnen nur alle zwei Tage eine vollwertige Mahlzeit zu sich nehmen konnte. Allein die über sieben Millionen Menschen, die heute im Hartz-IV-Status verharren oder auf ALG 2 aufgestockt werden müssen, laufen auf Renten zu, die weit unter dem Existenzminimum liegen dürften.
Dem aus der Globalisierung resultierenden zunehmenden Wettbewerbsdruck können deutsche und europäische Unternehmen keineswegs durch sinkende Löhne und höhere Arbeitsintensität beikommen. Vor allem deshalb nicht, weil die Löhne in den aufstrebenden Wirtschaftsnationen wie China, Indien, Brasilien, Russland und so weiter so extrem niedrig sind und über weitere Jahrzehnte auch bleiben werden, dass lohnkostenintensive Produkte künftig zunehmend aus den starken Schwellenländern kommen und die Welt überschwemmen werden. Das dürfte vor allem die westlichen Industriestaaten treffen, die oft keine eigenen Rohstoffe besitzen und deshalb alle Kraft in intelligenzintensive, sprich: lohnkostenintensive Erzeugnisse stecken. Deren kleine und mittlere Unternehmen dürften über kurz oder lang ausbluten.
Gleichzeitig führt das immer schneller werdende Rennen auf den Weltmärkten zu wachsendem Stress. In Deutschland spürt ihn bereits jeder dritte Arbeitnehmer. Der Run auf immer mehr Verfügbarkeit und Erreichbarkeit, das Ineinanderfließen von Arbeits- und privater Welt, die knapper werdende Zeit für Familie und erfülltes Leben führen zunehmend zur Verrohung des gesellschaftlichen Umgangs miteinander, zum Ausufern psychischer Krankheiten, einer Überbelastung der staatlichen Gesundheitssysteme und dem Anwachsen der Zwei-Klassen-Medizin. 22 Milliarden Euro muss werden in Deutschland jährlich für die Behandlung von Depressionen ausgegeben. Hinzu kommt der volkswirtschaftliche Schaden, der durch krankheitsbedingte Ausfälle entsteht. Was heute – durchaus salonfähig mit dem Begriff Burnout-Syndrom etikettiert wird („ nur wer brannte, konnte verbrennen“), sind schwere psychische Störungen, die Firmenchefs ihren Mitarbeitern oft erst dann attestieren wollen, wenn monatelange Behandlungen fällig sind. Dann aber müssen Kassenpatienten bis zu acht Monaten warten, bevor sie ein Arzt vorlässt. Der nämlich steckt in einem System, dass Privatpatienten bevorzugt und geradezu vorschreibt, dass Ärzte die Leistungen für Kassenpatienten budgetieren, um auskömmlich arbeiten zu können
Eine Lösung dieser Probleme ist meines Erachtens nur dann möglich, wenn wir die Globalisierung zurückdrehen, wenn wir Europas beziehungsweise Deutschlands Abhängigkeit von der „Restwelt“ (Kredite, Beteiligungen, Importe aus außereuropäischen Ländern) zunehmend reduzieren, den innereuropäischen Handel zu Lasten des außereuropäischen steigern, Kredite und Investments vor allem innereuropäisch generieren, wenn wir in immer größerem Umfang regional produzieren und regional Erzeugtes selbst verbrauchen, unsere Energie selbst erzeugen und den ökologischen Fußabdruck durch nachhaltiges Wirtschaften signifikant verringern.