14. Jahrgang | Nummer 21 | 17. Oktober 2011

Glück und Qual. Wie Stadttheater gar nicht geht

von Reinhard Wengierek

Die weiße Werbepostkarte zum Saisonstart des Leipziger Stadttheaters zeigt eine schwarze Spirale. Wie die Rauchspur eines abstürzenden Flugzeugs; oben steht 2010, unten 2011. Wer zur Spezies deutungseifriger Theater-Enthusiasten zählt, wird rufen: O, ein köstliches Kleinkunstwerk! Welch witziges Gleichnis für eine geile Spielzeit mit riskanten Loopings. Doch eine genervte Mehrheit wird das Ding wegschmeißen: O Gott, schon wieder dieser abstrakte Mist, den keiner kapiert!
Inzwischen ist klar, was da bemerkenswert selbstironisch gemeint war: Die Intendanz des Leipziger Centraltheaters stürzt ihrem Ende zu. Sebastian Hartmann, Haupt dieses als abgehoben, verkopft verschrieenen Unternehmens, verzichtet auf Verlängerung seines Fünfjahresvertrags über 2013. Dann ist Schluss mit Radikalinskis Theater-Ästhetik des Stücke-Ab-Um-Überbaus, diesen brachialen Dekonstruktionen in wuchtig ausladenden, schockierenden Bildwelten. Derart massiv hatte das vor Ort bislang noch keiner erlebt.
Hartmann, als Künstler erfahren, als Amtsträger Novize, ist ein tapfer trotziger Romantiker. Der Stoppelbärtige kommt von Frank Castorf, ist aber entgegen dummen Geschwätzes keine Metastase seines Lehrers. Vielmehr bedient sich der opernpompöse Monumentalist (wie Wagner geboren in Leipzig) lustvoll der Instrumente, die längst zum zeitgenössischen Regie-Handwerkszeug zählen. Und nimmt sendungsbewusst das Theater als Kanzel, von der den Leuten moralisch die Leviten zu lesen sind. Zugleich ist die Bühne dem sympathisch verbissenen Menschenverbesserer mit Frau und Kindern ein Traum-Raum, wo er unendlich verspielt seine krassen Predigten aufschäumt mit Fantasie. Theater als Denkzentrale und Gefühlskraftwerk. Ein Zwitter, von Kennern und Liebhabern bejubelt, von den vielen anderen als qualvoll links liegen gelassen. So schleuderte sich das Centraltheater nach drei Spielzeiten aus dem Zentrum der Stadt.
Dabei tat Hartmann, was die Stadtpolitik von ihm wollte, als sie ihn 2008 engagierte: Den Laden maximal aufmischen, der bislang bestückt war mit gefälligem Verschnitt aus unverstaubtem Konservatismus und moderat abstrakter Moderne. Das Publikum reagierte so-lala. Nun sollte Hartmann den Laden aufkochen. Mit provokativem Alles-auf-Anders, das obendrein weithin Aufmerksamkeit schafft. Er hatte sich nicht beworben dafür. Eine externe Auswahlkommission schlug ihn vor, das Stadtparlament nahm an. Jetzt wird er verteufelt für das, wozu man ihn bat.
Hartmann sagt: „Leipzig ist keine theaterbegeisterte Stadt.“ Stimmt. Und es stimmt, dass man im Rathaus sofortigen Weltruhm wollte fürs Theater, aber die nötige Kohle zurück hielt und, schlimmer noch, dass man aus innenpolitischem Dauerzwist ihm feige den Rückhalt verweigerte.
Vor allem aber stimmt: Stadttheater geht nicht als totale Verfremdungsanstalt mit expressionistischer Monokultur und philosophischem Projektbetrieb, sondern eher als fulminanter Zirkus für Vielerlei. Polarisieren allein ‑ statt Pluralismus ‑ entfremdet, führt aber immerhin zu einigem Ruhm: Festivals laden ein, die Fachwelt guckt, das überregionale Feuilleton kommt. Kultur-Deutschland befasst sich via Hartmann mit Leipzig. Doch dem Normalo-Steuerzahler ist das Wurscht.
Leipzig ist ein Lehrstück, wie es nirgends läuft mit lokalem tollen Volkstheater: Nicht mit Knausrigkeit, Hauruck und einem starken Künstler-Ego als Intendant, das unentwegt Kunstkrach zündet, Masken von Biedergesichtern reißt und die Bestie im Bürger bloßstellt. Sondern mit einem Moderator als Intendanten, der Diametrales von Krach bis Zart zusammenfügt sowie offiziösen Beistand hinter sich weiß. ‑ Was dem Publikum auf Dauer zumutbar ist in jeder Hinsicht, das ist der neuralgische Punkt eines Theaters. Eine Binse, die Hartmann im städtischen Auftrag (!) ignorierte. Woran er scheiterte. Und eine beschämte Stadtpolitik dazu. Seine Crux: Er war und ist für diese Stadt zu gut ‑ und zugleich nicht gut genug.
Das zeigen immer wieder auch seine Regiearbeiten. Deren theatralische Fülle und poetische Wucht meist etwas Erschlagendes haben, ein schäumendes Zuviel. Denn diesen wirkungsbesessenen Ballermann treibt noch immer – trotz seiner 43 Jahre ‑ etwas kraftmeierisch Jung-Siegfriedhaftes und vermasselt Geniestreiche. Wie jetzt wieder in seiner Adaption des Filmepos „Fanny und Alexander“ von Ingmar Bergman. Dabei fängt alles sehr schön an in Uppsala zu Weihnachten anno 1907: Mit einem wie aus dem Handgelenk geschüttelten, gelassen schwingenden Breitwand-Panorama der Theaterdynastie Ekdahl. Man lacht, liebt, quatscht, zankt und stirbt. Süße und Bitterkeit, das Ringen mit dem Leben und dem Selbst in mal lässiger, mal lastender Selbstverständlichkeit. Lauter hingetuschte Tschechowiaden zwischen langem Tisch und breitem Bett; feines, wie improvisiert erscheinendes Ensemblespiel. Doch dann tritt der grauenvolle Religionsterrorist Bischof Vergerus ins Komödiantenspiel – und Hartmanns rasender Regie-Ehrgeiz. Der schraubt den Bergmanschen Diskurs über die Freiheit des Christenmenschen, über Selbstbestimmung, Verantwortung, Himmel und Hölle ins unverständlich Tumultarische. Vor dem Hintergrund des ins Riesige vergrößerten und begehbaren, grell surrealen Neo-Rauch-Gemäldes „Die Lage“. Da schlagen sich gotisch gerüstete Brutalo-Recken durch ein brennendes Gegenwarts-Inferno. So wuchert aufdringliche, verschwiemelte Bedeutungshuberei ins Unerträgliche. Bizarrerie würgt Bergmans Moraldiskurs samt seiner zart mystischen Geheimniskrämerei, mit der diese Komödie vom Menschen philosophisch grundiert ist.
Hartmann hat sich – wie als Intendant – schon wieder berserkerhaft Kopf und Herz ausgerenkt. Eine Überhebung; wie so oft. Dabei hätte alles gut werden können. Doch immer dieser super Anlauf, dann Absturz. Die Werbepostkarte mit Spirale… Noch zwei Spielzeiten bis 2013.