14. Jahrgang | Nummer 21 | 17. Oktober 2011

Bemerkungen

Ein Dichter starb…

Er war einer der Stillen, der Klugen, die Angebote machen und darauf warten, dass irgendjemand sie aufnimmt: Am 4. Oktober berichtete das Neue Deutschland vom Tod Walther Petris. Da lebte er schon eine ganze Woche nicht mehr, und die Zeitung, deren politischer Ausrichtung er einigermaßen fern stand, war wohl die einzige, die diesem eigenwilligen Dichter einen Artikel des freundlichen Gedenkens widmete.
Petri beherrschte auf eine sehr eigene Weise das wunderbare Spiel mit einer wunderbaren Sprache. Was das Deutsche vermag, wenn es nicht mit Ideologien und verbaler Kraftmeierei beladen wird, hat er auch in selten poetischen Gedichtbänden Kindern aufgezeigt:

Gedichte entstehen
bevor sie beginnen
sie falln nicht
wie Regen aufs Dach
über Nacht
und keines wird
mit herzlichem Gruß
wie die Post
von der Post gebracht

Das stammt aus „Humbug ist eine Bahnstation“. „Menke Kenke“ heißt ein anderer Gedichtband für Kinder – wissen Sie noch, was das ist – „Menkekenkemachen“? – und „Die Güterlok aus Jüterbog“ heißt ein weiterer. Der ist Poesie pur.
Überhaupt das Universum Kinder: Walther Petri gab das „Tagebuch des Dawid Rubinowicz“ heraus. 1980 drehte er mit Konrad Weiß einen Dokumentarfilm über das Schicksal dieses von den Faschisten umgebrachten Jungen. Es ist mir unverständlich, weshalb ganze Heerscharen von Pädagogen dieses Buch und diesen Film tapfer ignorieren. Haben sie Angst vor der Härte dessen, was uns Petri da mitteilt?
Hart auch sein Umgang mit der DDR, an der er litt – er wehrte sich gegen die kleinen und großen Verlogenheiten mit Epigrammen wie dem über das Denkmal für Sigmund Jähn im „Hain der Kosmonauten“ auf dem Gelände der Archenhold-Sternwarte in Berlin-Treptow: „Ihm sieht es nicht ähnlich – aber uns.“
Die Kosmonautenköpfe aus Bronze sind verschwunden. Ich möchte nicht, dass Walther Petris Gedichte verschwinden.

Wolfgang Brauer

Public Viewing? Herzliches Beileid!

Money talks. Sex sells. Und die übermäßigen Anglizismen in unserem Alltag sind – mit Verlaub – bisweilen reichlich affektiert und nerven. Im schlimmeren Fall sind sie auch ein Beitrag zur Verarmung und Verlotterung der deutschen Sprache. Und dem Fass die Krone aus schlägt schließlich, dass mit etlichen besonders häufig gebrauchten Anglizismen nicht einmal das Englisch gesprochen wird, das sie vorgeben zu sein, sondern ein reichlich bescheuertes Kauderwelsch, das als Denglisch zu bezeichnen die Sache auch nicht wirklich besser macht. Allerdings – wer Denglisch spricht, wird vor der Erkenntnis dieser Peinlichkeit in aller Regel durch die eigene Dusseligkeit bewahrt.
Die Autorin weiß aus eigener Erfahrung, wovon sie redet. Und das kam so: Kurz nach Beginn eines Englisch-Kurses, den sie belegt hatte, um ihre – nach eigenem Dafürhalten – gar nicht so üblen Sprachkenntnisse gleichwohl noch weiter zu verbessern, musste sie erfahren, dass ihre aus den USA stammende Lehrerin Daryl noch nie in ihrem Leben mit einem Handy telefoniert hatte, bevor sie nach Deutschland kam. Amerikanerinnen telefonieren mit dem cell phone und ihre britischen Schwestern mit dem mobile phone. Doch das war nur der Anfang! Denn es gibt nicht wenige false friends, die zwar englisch klingen, aber bei Briten, Amerikanern, Iren, Kanadiern oder Australiern gleichwohl nur Stirnrunzeln hervorrufen.
So hat Daryl auch noch nie einen Beamer benutzt, wohl aber des Öfteren einen projector. Üble Verhaltensweisen in der Schule, der Uni oder im Job kennt sie natürlich aus ihrer Heimatstadt Ogalala, Nebraska – aber: „What does ‚Mobbing‘ mean?“ Bullying heißt das bei der Queen oder harassment bei Obama. Und wenn Daryl von einem Oldtimer spricht, dann meint sie mit liebevoll-ironischem Unterton ihren Großvater, aber kein altes Auto, und sei es noch so wertvoll (antique oder vintage car). Selbst wenn eine Beziehung mal den Verlauf nimmt, den die Beteiligten sich üblicherweise wünschen, führt das keineswegs zum Happyend sondern bestenfalls zu einem happy ending. Und mit ihrem Chef spricht Daryl auch nie. Weil sie keinen hat. Sie hat einen boss. Trotzdem ist sie schon hin und wieder einen chef begegnet – in guten Restaurants zeigt der sich bisweilen den Gästen.
Ach übrigens, wenn Sie mal wieder jemand zum Public Viewing nötigen will, dann antworten Sie doch einfach mit: „Herzliches Beileid!“ Und wenn Ihr Gegenüber daraufhin guckt, wie das Haustier ins Uhrwerk, dann setzen Sie einfach noch eins drauf mit der Frage: „Wer ist denn eigentlich gestorben?“ Denn wenn die oder der Verblichene aufgebahrt ist und Verwandte und Freunde am offenen Sarg ein letztes Lebewohl sagen – das ist public viewing. Für die Haufenbildung in Kneipen und auf Plätzen zur johlenden kollektiven Beschauung von Fußballspielen und vergleichbaren Events haben die englischsprachigen Eingeborenen keinen so schönen Anglizismus wie wir – da müssen sie zur Umschreibung greifen: watch footbal outside, in the pub

gm

Triple A und default

„Deine Texte erkennt man sofort an deinem Stil: bukolisch, arabesk, redundant“, haben mir schon mehrere Redakteure gesagt, die zu beliefern ich Ehre und Vergnügen hatte. Ich habe lieber nicht gefragt, ob sie sie eigentlich gut finden – solange sie mir mein Geschreibsel abgenommen und bezahlt haben …
Aber rausbekommen wollte ich denn doch gern, wie ich eigentlich schreibe – man selbst merkt das ja beim Schreiben gar nicht. Also habe ich auf der Homepage einer großen überregionalen Tageszeitung die Servicefunktion „Ich schreibe wie…“ aufgerufen, aufforderungsgemäß ein Textlein von mir reingestellt und – nicht ohne geschmeichelt zu sein – lesen können: Sie schreiben wie Alfred Döblin. Ist zwar nicht Thomas Mann, aber immerhin. Also noch ein Versuch, mein kleines Archiv hält ja noch manches Testmaterial bereit. Ein zweiter Text, ein neues Ergebnis: Friedrich Nietzsche, das adelt ja nun immerhin doch. Wiewohl ahnend, dass sich das kaum steigern lassen wird, lasse ich mich zu einem dritten Versuch hinreißen. Und obwohl ich in dem dafür eingesetzten Text auf Begriffe aus dem Bereich unterhalb der Leibesmitte und den damit möglichen Tätigkeiten verzichtet hatter, erfahre ich verdutzt: Sie schreiben wie Charlotte Roche!
So etwa muss sich ein Staat vorkommen, den Standard & Poor’s gerade von Triple A auf default heruntergestuft hat.

HWK

Oans, zwoa gsuffa

Berlin Mitte wird immer blau-weißer, zumindest, was die Gastronomie betrifft. Neben dem Löwenbräu in der Leipziger und dem Maximilians in der Friedrich-Straße sowie dem Augustiner am Gendarmen- und dem Weihenstephaner am Hackeschen Markt eröffnet demnächst mit dem Hofbräuhaus in der Liebknecht-Straße die fünfte bayerische Tränke im Zentrum der Stadt.
Dass dort nachempfunden wird, was in München das Oktoberfest ist, mag dabei angehen, warum nicht. Nur eben – Oktoberfest ist in Berlin mittlerweile fast allgegenwärtig. Kaum noch eine Kneipe, in der nicht Oktoberbier angeboten wird. Selbst Cafes stecken ihre meist gar nicht drallen Kellnerinnen inzwischen ins Dirndl und lassen sie bayerischen Gerstensaft aufgetragen – begleitet von Blasmusik, live oder vom Band. Wat isses jemütlich!
Wohin sind die seligen Zeiten, als regionale Bräuche noch regionale Bräuche waren, solche also, die Regionen in dieser oder jener Hinsicht das verliehen, was man heutzutage als „Alleinstellungsmerkmal“ bezeichnet. Heute ist alles überall, auch das Münchner Oktoberfest.
Und das Ganze ließe sich ohne weiteres noch steigern. Wie wäre es also, wenn das so herrlich leere Flugfeld von Tempelhof im nächsten Herbst zur dann bundesgrößten „Wies´n“ aufgerüstet würde? Ein weiterer Magnet für Touristen, die Alkoholiker werden wollen oder es schon sind, wäre Berlin sicher. Brave new world – oder besser: Oans, zwoa gsuffa!

Bärbel Wille

Die Konjunktivnachricht

Bonn/Offenbach – Die Polizei hat in Nordrhein-Westfalen und Hessen vier Männer festgenommen, die der Islamistenszene zugerechnet werden. Drei Männer wurden im Raum Bonn, ein vierter in Offenbach gefasst, sagte ein Sprecher des Polizeipräsidiums Köln am Sonntag. Damit bestätigte er entsprechende Meldungen des SWR-Hörfunks.
Nach ersten Erkenntnissen haben sie sich illegal Schusswaffen verschafft. Nach Informationen des SWR erfolgten die Festnahmen wegen des anstehenden „Deutschlandfestes“ unter anderem mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundespräsident Christian Wulff in Bonn.
Alle vier Männer im Alter zwischen 22 und 27 Jahren seien in Deutschland geboren. Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe sagte, es gebe weder Anhaltspunkte für die Einbindung der Männer in eine terroristische Vereinigung noch für konkrete Anschlagsvorbereitungen.
In der früheren Bundeshauptstadt feiern Hunderttausende Menschen noch bis zum Montag den Tag der Deutschen Einheit sowie den NRW-Tag. In Bonn findet am Montag die zentrale Einheitsfeier statt.
Nach Angaben der für Terrorismus zuständigen Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gibt es bislang keine zureichenden Anhaltspunkte, die die Zuständigkeit der Bundesbehörde begründen könnten.

Diese Meldung war am 2. Oktober bei Spiegel-online unter der Überschrift „Polizei nimmt vier mutmaßliche Islamisten fest“ zu lesen. Die Hervorhebungen sind dabei von mir; ob Henryk M. Broder der Redakteur dieser Nachricht war, konnte nicht ermittelt werden. Wenn es also auch beim Spiegel üblich wird, Meldungen aus so viel Konjunktivspekulationen zu produzieren, müsste das Portal eigentlich auch folgende, von mir investigativ erstellte Nachricht veröffentlichen:

Mutmaßliche Säbelzahntiger vor dem Reichstag festgesetzt

Berlin – Die Berliner Polizei hat auf der Freianlage vor dem Berliner Reichstag vier Säbelzahntiger festgesetzt, die der Gattung der Killerbienen zugerechnet werden. Nach ersten Erkenntnissen haben sie sich illegal Eintrittskarten für den Plenarsaal des Bundestages verschafft. Alle vier Säbelzahntiger seien im Berliner Zoo geboren. Bundestagspräsident Lammert sagte, es gebe weder Anhaltspunkte für die Einbindung der Säbelzahntiger in eine Fleisch fressende Vereinigung noch für konkrete Angriffsvorbereitungen.
Nach Angaben des Berliner Polizeipräsidenten gibt es bislang keine zureichenden Anhaltspunkte, die die Zuständigkeit der NATO begründen könnten.

HWK

Kampfradler

Das rücksichtslose, häufig genug den Regeln der Straßenverkehrsordnung widersprechende Verhalten von immer mehr der immer mehr werdenden Radfahrer auf Straßen und vor allem Fußwegen hat sich mittlerweile zu einem solchen Problem gemausert, dass jüngst sogar der Spiegel daraus ein Titelthema gemacht hat. Und man kann sich – wie eben der Spiegel – ellenlang darüber auslassen. Ich denke nur, die Erklärung ist ziemlich einfach: Was sich diesbezüglich auf den öffentlichen Verkehrswegen abspielt, ist im wesentlichen nichts anders als das Ergebnis jenes Trends zu immer größerer Rücksichtslosigkeit, die als zwischenmenschliche Verhaltensweise immer ungehemmter um sich greift. Rücksicht auf andere zu nehmen, erscheint einer wachsenden Anzahl von Zeitgenossen als Einschränkung, ja Demütigung der eigenen „Persönlichkeit“, die zu sein ihnen Werbung und Individualitäts- wie Freiheits-Philosophen tagtäglich einreden, und wer Rücksicht nimmt, hat schon verloren.
Nicht, dass es keinen Altruismus mehr gebe in unserem so wunderschönen Landsleute-Gemeinwesen. Aber immer zutreffender ist geworden, was – um beim Spiegel zu bleiben – Rudolf Augstein einst bemerkte: Wo Ego drauf stehe sei auch Ego drin. Wir dürfen uns diesbezüglich sicher auf noch viel Schönes gefasst machen – wetten, dass?

Helge Jürgs