14. Jahrgang | Nummer 20 | 3. Oktober 2011

Wie die Welt verrückt und wieder vernünftig wurde

von Heiner Flassbeck, Genf

Es war einmal vor kurzer Zeit. Da haben Banker und andere Geldmanager solange hemmungslos mit fremdem Geld gezockt, bis sie kurz vor der Pleite waren. Weil der Staat aber Angst hatte, die Pleite so vieler Banken könnte Panik bei normalen Menschen auslösen, nahm er die Schulden der Zocker zunächst auf die eigene Kappe und verlangte von seinen Bürgern, dass sie auf lange Sicht für die Schulden der Zocker geradestehen. Weil er aber die Zocker weder einsperrte, noch ihnen das Zocken für die Zukunft verbot, gingen die Zocker sofort wieder zum Zocken, denn sie hatten ja nichts anderes gelernt.
Nun aber fanden die Zocker, dass es an der Zeit sei, auf die Pleite der Staaten zu wetten, denn die Staaten hatten ja jetzt enorm hohe Schulden. Also nannte man die von den Zockern ausgelöste Krise von nun an „Staatsschuldenkrise“ und alle „guten“ Ökonomen und Medien machten schleunigst mit, weil sie ja schon immer gewusst hatten, dass alles Übel nur vom Staat kommen kann. Statt über Unternehmen begannen die Banker und die anderen Zocker mit den ihnen nahe stehenden Rating-Agenturen nun Urteile über Staaten zu fällen. Weil in den Regierungen der Staaten viele auch Verantwortung tragen, die weiter glaubten, dass die Märkte immer Recht haben, gerieten sie in Panik und begannen zu tun, was die Banken von ihnen verlangten, nämlich auf Teufel komm raus zu sparen.
Doch die Banken und Rating-Agenturen wussten allerdings, dass Staaten gar nicht sparen können. Wenn Staaten sparen und auch alle anderen Bereiche der Volkswirtschaft sich mit Ausgaben zurückhalten, wie das im Sommer 2011 der Fall war, dann führt das Sparen des Staates immer dazu, dass auch die Einkommen der Unternehmen und der Privathaushalte sinken, wodurch die wieder weniger Steuern zahlen oder mehr Hilfen vom Staat brauchen, so dass am Ende die Defizite des Staates umso höher sind, je mehr er zu sparen versucht.
Weil die Staaten aber an der Sisyphos-Arbeit, die Defizite zu reduzieren, permanent scheiterten, wurden sie von den Rating-Agenturen, Banken und sonstigen Geldanlegern immer kritischer beäugt, die Kreditwürdigkeit wurde immer mehr bezweifelt. Nach einer „verlorenen Dekade“ wurden Staatsanleihen nur noch auf Ramschniveau bewertet und die Anleger weigerten sich, noch Geld zu leihen oder gaben es nur zu extrem hohen Zinsen.
In dieser Lage geschah Außerordentliches. Da die Zentralbanken, die das Geld schaffen, es den Banken immer noch zu extrem niedrigen Zinsen gaben, fragten sich einige vernünftige Leute, wofür man eigentlich die Banken brauche, die vom Staat über die Zentralbank Geld für fast nichts erhalten, sich dann aber weigern, es dem Staat zu einem vernünftigen Zins zurückzugeben, weil die Staaten ja nicht kreditfähig wären, weil sie ja die Banken gerettet hatten.
Also ging man allmählich dazu über, dass die Zentralbanken dem Staat das Geld, das sie sonst den Banken gegeben hätten, direkt zu geben und zwar zu einem sehr niedrigen Zins. Weil der Zins aber so niedrig war, gelang es den Staaten allmählich, ihre Schulden zu reduzieren, denn das geht überhaupt nur bei einem niedrigen Zins. Als man das eine Weile gemacht hatte, merkte man, dass das ganz unproblematisch ist und man die Banken mit ihren hohen Gebühren gar nicht braucht. Also gaben die Zentralbanken den Banken gar kein Geld mehr und was immer die Banken und ihre Rating-Agenturen für Einschätzungen abgaben, war den Staaten komplett egal.
Da aber die Banken kaum noch normales Geschäft hatten, sondern immer mehr zockten, wurden die Bürger unruhig und zogen ihr Geld von den Banken ab und legten es in staatlichen Kassen an, wo sie zwar keine Zinsen bekamen, ihr Geld aber sicher war, weil der Staat versprach, ihre Renten und Sozialversicherungen auch dann zu zahlen, wenn sie nicht mehr arbeiten können.
In der nächsten Zockerkrise gingen dann alle Banken und Rating-Agenturen unter, aber es hat niemanden wirklich interessiert, denn man wusste ja jetzt, dass man diese Institutionen überhaupt nicht braucht. Nach dieser Zockerkrise war es dann auch mit den Krisen überhaupt vorbei, weil die Zocker ausgestorben waren. Die Menschen wussten, dass sie arbeiten müssen, um ein vernünftiges Einkommen zu erzielen, die Unternehmen wussten, dass man in richtige Anlagen investieren muss, um Gewinne zu machen und der Staat wusste, dass er auf Zocker keine Rücksicht zu nehmen braucht, sondern sich so verschuldet, dass die Wirtschaft fähig ist, Beschäftigung und Einkommen zu schaffen.
Das gute Ende wäre aber nicht möglich gewesen, hätten nicht auf dem Höhepunkt der Krise alle Regierungen eine drastische Maßnahme durchgesetzt: Sie versetzten alle professionellen Ökonomen, die sich positiv zum staatlichen Sparen geäußert hatten, in den sofortigen Ruhestand, verbunden mit der Auflage, sich nie mehr zu wirtschaftlichen Themen öffentlich zu äußern, und sie verboten allen Medien, über komplexe wirtschaftliche Themen wie Konsolidierung von Staatshaushalten auch nur zu berichten. Auch PR-Agenturen und Lobbyistenvereinigungen wurde verboten, sich zu Themen zu äußern, die mit gesamtwirtschaftlichen Sachverhalten zu tun hatten. Internationale Konferenzen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, Wissenschaftstagungen wurden nur erlaubt, wenn eine kritische Masse von gesamtwirtschaftlich denkenden Ökonomen mit von der Partie war.
Nur durch diese Einschränkung der Meinungsfreiheit war es möglich, die sinnlose Konfrontation über staatliche Schulden, die die Politik zuvor jahrelang blockiert hatte, zu vermeiden und zu einer sachgerechten Debatte zu kommen. Zugleich starteten die Regierungen eine Bildungskampagne, um den Bürgern in der Schule und an Universitäten binnen zehn Jahren so viel an gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen zu erklären, dass später Diskurse über diese Fragen wieder zugelassen werden könnten.

Aus: WIRTSCHAFT& MARKT 09/11. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.