14. Jahrgang | Nummer 19 | 19. September 2011

Vom Wir zum Ich: Thomas Vinterberg am Burgtheater Wien

von Reinhard Wengierek

In der Kommune, da muss die Freiheit grenzenlos sein … Wer Bart, schulterlanges Haar, Supermini und Riesenbrille trug, wer für Basisdemokratie kämpfte, von antiautoritärer Erziehung und freier Liebe schwärmte, Jethro Tull oder Donna Summer auflegte, Mao, Lenin, Hesse und den „Fänger im Roggen“ schmökerte, der zählte sich schnurstracks zur Avantgarde und lebte selbstverständlich in einer Kommune. So war das in den goldenen Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts im Westen; aber ‑ freilich ein bisschen diskreter ‑ auch im Osten. Bis dann, sehr bald schon, der süße Traum von Gleichheit und Brüderlichkeit, vom Triumph der paradiesischen Unordnung über einschnürende Ordnungen, bis der revolutionäre Schritt vom Ich zum Wir zerbröselte am ewig reaktionären Menschen-Ego.
Wie der alte Adam die seit Urzeiten trainierte Rolle rückwärts macht von der Kommune-WG hin zur Ich-AG, wie ein freiheitlich-urdemokratisches Zusammengehörigkeitsgefühl, wie eine Ideologie sich unaufhaltsam auflöst, davon erzählt der dänische Filmregisseur Thomas Vinterberg in seinem Stück „Die Kommune“, das jetzt im Akademietheater, den Kammerspielen des Wiener Burgtheaters, uraufgeführt wurde unter der Regie des Autors mit teils schmerzlich grundierter Akklamation, aber letztlich von Beifall umtost.
Der 42 Jahre alte Vinterberg weiß, wovon er redet. Wuchs er doch in einer Kopenhagener Kommune auf, genoss die hübschen Freizügigkeiten und litt zugleich unter den chaotischen Verhältnissen, vor allem unter den unterschwellig bösen Zwängen, die da zunehmend waberten hinter der von seiner wilden „Großfamilie“ mit verbissenem Eifer hoch gehaltenen Fassade des poppigen Laissez Faire.
Überhaupt, Vinterberg kennt sich aus mit Familienbanden jeglicher Art. Die so grauenvolle, unheimlich packende Inzest-Missbrauch-Geschichte „Das Fest“ (1998) war im Kino ein Welterfolg des Dogma-Filmers (verwackelte, unscharfe Bilder als Authentizitäts-Garanten). Und wurde auch als Bühnenfassung viel gespielt und preisgekrönt. „Das Begräbnis“, Vinterbergs Fortsetzung der Kinderschänder-Tragödie (die Opfer prallen zur Beerdigung des entsetzlich lieben Über-Papis aufeinander; zuletzt geschah dies zu dessen 60. Geburtstags-Fest), die wurde von Vinterberg gleichfalls an der Burg urinszeniert.
Jetzt, in der Kommune, geht es nicht um Extrem-Täterschaft, aber auch ‑ im Rahmen einer halboffenen Gemeinschaft ‑ um die Zerstörung einer Familie: Papa, Mama, Kind – der Vater und zugleich Hauptsponsor der in seiner geerbten Villa idealistisch etablierten Kommune holt sich eine blutjunge Geliebte ins Haus, das traute Glücks-Trio zerbricht und dabei auch die nur scheinbar trauliche Ego-Shooter-Clique.
Das Scheitern des Kollektivs, welcher Art auch immer, am banalen, notorisch allmächtigen Individualismus: In überraschender Heiterkeit geschieht diese eigentlich gar nicht so seltsame und durchaus noch immer wieder gern von jungen Utopisten versuchte Familienaufstellung. Teils entstand das Script im Verlauf der Proben; quasi nach diversen Selbsterfahrungen des fantastischen Ensembles der Stars (unter anderem Joachim Meyerhoff, Regina Fritsch, Tilo Nest, Dorothee Hartinger, Fabian Krüger). Das wiederum schafft den gelösten, wie improvisiert wirkenden Duktus der pointierten, zunehmend ins Irre, Absurde gleitenden Szenenfolge. Großartig komödiantisch-kabarettistisch, wie sich quasi nebenbei im Kuschel-Schmuddel-Bühnenbild von Stefan Mayer das Spießige und schließlich Menschenverachtende der sich ach so freidenkerisch dünkenden Truppe entlarvt.
Populäre Selbstverwirklichung untergräbt anstrengende Nächstenliebe – das Traurige geschieht ohne besserwisserischen Regie-Zorn als Komödie auf dem tragikomischen Boulevard des Menschlich-Allzumenschlichen. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, dass der dänische Theatermann sein Theaterglück als Filmemacher ins Weltkino holt.