von Heerke Hummel
Der Bundespräsident hat sich in Sachen Euro-Krise weit aus dem Fenster gelehnt. Wahrscheinlich zu weit! Seine scharfe Kritik am massiven Aufkauf von Anleihen einzelner Staaten durch die Europäische Zentralbank könnte sich schon bald als kurzsichtig und realitätsfremd erweisen, wenn sich die EZB vielleicht zu noch viel drastischeren Maßnahmen im Interesse der Euro-Rettung gezwungen sehen sollte, auch wenn sie damit die ihr zugestandenen Kompetenzen weitaus stärker übertreten müsste. Zwar studierte Wulff einst Rechtswissenschaft mit Schwerpunkt Wirtschaftsrecht, doch was er in Lindau am Bodensee kürzlich ausgerechnet zur Eröffnung des vierten Treffens der Wirtschafts-Nobelpreisträger als seine persönliche Meinung zum Besten gab, zeugte von nichts weniger als von Kompetenz. Damit soll durchaus nicht den hoch dekorierten Tagungsteilnehmern eine besondere Kompetenz zugesprochen werden, hat doch ihr jahrzehntelanges Wirken das Chaos im Weltfinanzsystem eher befördert als ihm zu begegnen. Denn ein Großteil ihrer prämierten Arbeiten war ökonomischen Wachstumsmodellen gewidmet, die, ebenfalls kürzlich, im nahe gelegenen schweizerischen Zürich von „Experten“ gar nicht gut bewertet wurden.
An der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) gaben die Wissenschaftler Prof. Dr. Dirk Helbing (Professur für Soziologie) und Dr. rer. nat. Tobias Preis (Physiker und “Chair of Sociology, in particular of Modeling and Simulation” sowie Autor des Buches “Ökonophysik: Die Physik des Finanzmarktes“) der Zeit-online ein Interview, in dem „etwa die ungenügende Berücksichtigung der Risiken in den verwendeten Modellen“ bemängelt wurde. Beide gehen in dem sehr widersprüchlichen Gespräch zwar scharf mit den bisherigen Leistungen der Wirtschaftswissenschaft ins Gericht (es gelte nun, fundamentale Wissenslücken zu schließen und FuturICT-Flagships für die moderne Welt zu verstehen, auch brauche man wahrscheinlich eine neue Finanzarchitektur, angesichts der immer wiederkehrenden Finanzkrisen müsse man die Grundannahmen auf den Prüfstand stellen und Alternativen anschauen), doch tun sie selbst den entscheidenden Schritt nicht. Sie bleiben stecken in der Grundannahme von der privaten Natur allen Wirtschaftens, auch wenn sie Adam Smiths These, dass die Wirtschaft dann am besten funktioniere, wenn jeder individuell sein Glück sucht, für wissenschaftlich nicht haltbar befinden. Die Märkte seien nicht zwangsläufig kooperativ, daher könne ein Individuum davon profitieren, nicht kooperativ, sondern egoistisch zu handeln. Und zur Überwindung des Dilemmas empfehlen die ETH-Wissenschaftler, Vertrauen zu schaffen und Sanktionsmechanismen für unkooperatives Verhalten zu installieren, was beispielsweise heißen soll: für undiszipliniertes Verhalten in der Haushaltspolitik. Da verlangen sie nun auch nicht mehr als unser Bundespräsident, der lieber die Wirtschaft und die Staatswesen kaputt sparen möchte als den Reichen ans Portemonnaie und an die Quellen ihres arbeitslosen Einkommens zu gehen.
Ausgehend davon, dass die Komplexität und die Intransparenz des Systems Weltwirtschaft extrem zugenommen haben und dass dieses dadurch noch instabiler geworden ist, es also zu Kaskadeneffekten kommt, wodurch Finanzwerte in Sekunden zerstört werden können, beschäftigt man sich an der ETH Zürich mit der Frage, wie man das Finanzsystem vor solch fatalen Ereignissen schützen kann. Das geschieht unter anderem im Rahmen des FuturICT-Flagships, eines Zehn-Jahres-Projekts, das sich mit den Schwierigkeiten beschäftigt, vor die hochkomplexe Systeme uns Menschen stellen. Hier arbeiten Soziologen, Ökonomen, Physiker, Computerwissenschaftler und viele andere mit. Nach Einschätzung der ETH sind „fundamentale Wissenslücken zu schließen“. Und das Ziel sei nicht geringer als die moderne Welt zu verstehen. Solche Aussage anderthalb Jahrhunderte nach dem Erscheinen des „Kapitals“ von Karl Marx spricht für sich.
Immerhin: Die Welt hat sich ja seitdem gravierend verändert, und so sind neue Denkansätze gewiss nützlich und notwendig. An der ETH hat man angesichts der sich häufenden Extremereignisse eingesehen, dass man der Realität mit den herkömmlichen Methoden nicht mehr beikommt. Das zehnjährige Projekt FuturICT, das 2013 beginnen und von der EU mit einer Milliarde Euro unterstützt wird, soll die Zukunftsszenarien unserer heutigen Welt erforschen. Dazu plant man eine Supercomputer- und Datenanalyseplattform, die frühzeitig Krisen und Chancen erkennen kann. Ausgehend von der Einschätzung, dass in der Vergangenheit „die systemischen Risiken nicht durchschaut“ wurden, fragte man sich heute – so Tobias Preis, der „Die Physik des Finanzmarktes“ ergründete –, „warum das System irgendwann kippt“. Um das herauszufinden habe man eine sehr große Menge empirischer Finanzmarkt-Daten gesammelt und, von diesen ausgehend, die Gesetzmäßigkeiten extrahiert, um neue, verbesserte Modelle zu entwickeln. Das klingt phantastisch, Preis-verdächtig, in welchem Sinne auch immer.
Doch es wirft auch eine ganz neue Frage auf – die nach der heutigen Rolle des Menschen in der Wissenschaft. Können Computer wissenschaftliches, fachspezifisches Denken ersetzen, das mittels Analyse und Abstraktion das verborgene Wesen von Erscheinungen in Natur und Gesellschaft zu entdecken versucht? Folgte man den Visionen der Forscher am ETH bei ihrer Analyse des Finanzsystems und transformierte sie auf andere Forschungsfelder, so könnte man beispielsweise zu der Auffassung kommen, Albert Einsteins bahnbrechendes Denken – gipfelnd etwa in der Formel E = m x c2 -, das ganz im Sinne Alfred Nobels gewürdigt wurde, hätte für die moderne Physik überflüssig sein können, wären vor hundert Jahren Computer verfügbar gewesen, um Milliarden Daten des Weltalls auszuwerten. Vom Denken Karl Marx‘ ganz zu schweigen!
Aus der Verarbeitung eines gewaltigen Datensatzes von 2,6 Milliarden Börsentransaktionen gewannen die Forscher in der Schweiz nicht mehr als die erstaunliche Erkenntnis, „dass extreme Ereignisse viel häufiger auftreten, als man erwartet“. Daraus lernten sie nach eigener Aussage etwas über das Platzen von Blasen und können heute abschätzen, wann Blasen platzen werden. Daher könnte man diese, so die Interviewten, auch zum Platzen bringen, bevor sie zu groß werden und ganze Länder in den Abgrund reißen. Solche Aussagen klingen wie Kabarett. Denn warum, so ist zu fragen, bringt man dann heute nicht sofort die gesamte Schuldenblase in der Welt zum Platzen, da sich die Lage doch nur verschlimmern kann und irgendwann eine Umkehr kommen muss, die um so schwieriger wird, je länger man wartet?
Vor der Abschaffung des Goldstandards, sagte Tobias Preis, hätte er an der Stelle von US-Präsident R. Nixon und dessen Berater Paul Volcker getestet, was passiert, wenn man die Geldmenge unbegrenzt wachsen lässt. Das könnte er sich dann gespart haben. Die ganze Ökonomenzunft hielt damals (1971) einen solchen Schritt der US-Regierung für unmöglich und war von diesem völlig überrascht, weil man sich durchaus ungefähr vorstellen konnte, was geschehen würde; auch P. Volcker. Dass er dem Präsidenten dennoch zu dem folgenschweren Schritt riet und dieser ihn auch tat, hatte doch seinen Grund: Die Amerikaner wollten, als in der Krise ein Sturm auf die Dollar-Deckung begann, nicht zusehen, wie ihre rund 8.000 Tonnen Gold von den Gläubigern des Auslandes abgezogen würden.
Heute fragen Helbing, Preis & Co.: Wie rettet man das hochkomplexe europäische Finanzsystem, das nicht einmal eine gemeinsame Fiskalpolitik kennt, in die Zukunft? Die jetzige Lösung mit Transferleistungen scheint ihnen „noch nicht sehr durchdacht“ zu sein. Darum müsse ein neues System erfunden werden. Ob das aus dem Computer kommen soll, lassen die Experten offen. Goethes Doktor Faustus war da direkter mit seiner Feststellung: „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!“
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