Bis vor wenigen Jahren kam die „andere Meinung“ im Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist von denjenigen Ratsmitgliedern, die von den Gewerkschaften vorgeschlagen worden waren und auch arbeitnehmerorientierte Positionen vertraten. Mit Veronika Grimm – Mitglied seit 2020 – hat eine betont wirtschaftsliberal eingestellte Wissenschaftlerin oft eine andere Meinung. Auch dieses Jahr widerspricht sie in fünf der acht Kapitel des Gutachtens ihren Kolleginnen und Kollegen. Selbst der von den Arbeitgebern vorgeschlagene Martin Werding und der dem Gewerkschaftslager nahestehende Achim Truger fanden zusammen, nicht jedoch Veronika Grimm. Eine bemerkenswerte Nuance in der Geschichte der „Fünf Wirtschaftsweisen“. Was hat Grimm an der Mehrheitsmeinung des Rates zu beanstanden?
Sie hält erstens die Aussagen zu den erforderlichen Strukturreformen für nicht weitreichend genug. Die Ratsmehrheit betont, bei den außerhalb der öffentlichen Kernhaushalte gebildeten Sondervermögen müsse vor allem deren Investitionsorientierung und „Zusätzlichkeit“ gesichert werden – eine angesichts der Haushaltstricksereien sinnvolle Forderung. Grimm bemängelt, die darin eingeschlossenen „Wahlgeschenke in Verbindung mit dem fehlenden Reformwillen“ könnten zu einer Aufweichung der Schuldenbremse und womöglich zu Steuererhöhungen mit „negativen Effekten für den Wirtschaftsstandort“ führen. Aus neoklassischer Sicht ist der Vorwurf berechtigt: Öffentliche Schulden gelten per se als schlecht und höhere Steuern gefährden die Gewinne. Dabei hat Deutschland im internationalen Vergleich mit 62 Prozent eine eher niedrige Schuldenquote; bei wichtigen Konkurrenten mit weit höherem Wirtschaftswachstum ist dieser Wert bis zu doppelt so hoch. Und was die Unternehmenssteuern betrifft, so sind die Steuersätze mit summa summarum 29 Prozent (USA 25) zwar relativ hoch, aber im Verhältnis zur am BIP gemessenen Wirtschaftsleistung liegt das Gesamtaufkommen genau beim EU-Durchschnitt. Aber klar: Ein Wettbewerbsvorteil ist das nicht; aus Sicht der Unternehmen ist jede Steuer zu hoch.
Zweitens hält die Mehrheit des Sachverständigenrats es richtigerweise für erforderlich, die stark ungleiche Vermögensverteilung zu korrigieren. Dazu soll der Vermögensaufbau bei den unteren Schichten gefördert und Erbschaften sowie Schenkungen gleichmäßiger, aber letztlich – auch durch eine Reduzierung der steuerlichen Begünstigung bei der Vererbung von Betriebsvermögen – doch etwas stärker besteuert werden. Veränderungen bei den Erbschafts- und Schenkungssteuern halten diese Ratsmitglieder für effektiver als die verfassungsrechtlich eigentlich gebotene Wiedereinführung der Vermögensteuer. Aber immerhin: ein winziges Schrittchen in die richtige Richtung. Grimm bemängelt hier, dass die Ratsmehrheit dem „ebenso verbreiteten wie irreführenden Trend der jüngeren Ungleichheitsforschung“ folge. Die Ungleichheit sei übertrieben dargestellt und berücksichtige die Rolle mittelloser Zugewanderter zu wenig. Außerdem würden die „impliziten Vermögensansprüche aus öffentlichen Sicherungssystemen“ ignoriert und folglich auch falsche Handlungsprämissen gesetzt. Mehr Gleichheit solle weniger über Transfers als über höhere Chancengleichheit – zum Beispiel durch verbesserte frühkindliche Bildungsangebote – und vor allem über eine kapitalgedeckte Alterssicherung hergestellt werden, wie die für mehr Gleichheit sorgen soll, bleibt allerdings rätselhaft. Die zentrale Herausforderung liege „weniger in einer unzureichenden Absicherung, sondern in fehlenden Spielräumen für private Initiative und Investitionen“. Das erinnert an die Trickle-down-Economics und klingt wie die alte Leier von des eigenen Glückes Schmied.
Während drittens die Ratsmehrheit von „Chancen des Finanzpaktes“ der Bundesregierung spricht, betont Grimm dessen Risiken. Die Grundgesetzänderungen befänden sich nicht in Übereinstimmung mit dem bestehenden europäischen Regelwerk; da hat sie mit Sicherheit einen Punkt. Die national gegebenen Spielräume für eine Neuverschuldung sollten keineswegs ausgeschöpft werden und von einer Lockerung der Schuldenbremse sei abzusehen. Darauf soll hier nicht noch einmal eingegangen werden.
Bezüglich des Gutachten-Kapitels zum Bürokratieabbau stellt Grimm viertens fest, der Ansatz, vor allem die Bürokratiekosten zu betrachten, sei nicht zielführend. Es gehe nicht nur darum, etwa mittels Verwaltungsdigitalisierung die Kosten zu senken, sondern mithilfe einer inhaltlichen Analyse bestimmte Regeln anzupassen oder ganz abzuschaffen. „Echte Entlastung dürfte es nur mit einem Abbau der Regulierung geben.“ An erster Stelle stünden Umwelt- und Klimaschutz, das Baurecht und das „überdehnte“ Vorsorgeprinzip. Die Ratsmehrheit hatte von inhaltlichen Empfehlungen abgesehen, weil diese nicht „wertfrei“ sein könnten und daher außerhalb des politikberatenden Auftrags des Sachverständigenrates stünden. Das ist natürlich eine windelweiche und ausweichende Begründung für die Abstinenz bezüglich inhaltlicher Vorschläge und bei anderen Fragen ist der Sachverständigenrat keineswegs so wertneutral, wie er sich hier gibt. Es ist zu vermuten, diese Formulierung war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich einigen konnte. Hier spricht Grimm Klartext, ihre Vorschläge zeigen in der Tat eine strenge Werte-, besser Interessengebundenheit. Alles, was der Profiterwirtschaftung irgendwie im Wege steht und was dem Unternehmerlager (zumindest einem Teil dieses Lagers) ein Dorn im Auge ist, soll im Namen des Wirtschaftswachstums auf den Prüfstand kommen oder am besten gleich geschreddert werden.
Der fünfte Kritikpunkt Grimms beschäftigt sich mit dem abschließenden Kapitel über Strukturwandel, Produktivität und Arbeitsmarkt. Die wichtigste Botschaft der Ratsmehrheit (alles ziemliche Gemeinplätze) betont das Potenzial der Informations- und Kommunikationstechnologien und der Künstlichen Intelligenz sowie die Notwendigkeit der Schaffung attraktiver Qualifizierungsmaßnahmen. Regionale Fördermaßnahmen sollten Zukunftsperspektiven bieten, Anpassungen erleichtern und die gesellschaftliche Akzeptanz des Strukturwandels verbessern. Auch hier rührt Grimm die Trommel von Eigenverantwortung und Eigenregie bei der Bewältigung des Strukturwandels. Im Mehrheitsvotum würden die Frage des Föderalismus und des Subsidiaritätsprinzips, vor allem aber „die Rolle von Marktmechanismen zur Anpassung an den Strukturwandel“ zu wenig thematisiert. Auch das war von ihr erwartbar.
Die Stoßrichtung dieses Minderheitsvotums ist klar. Es hält die Fahne des Marktliberalismus hoch und kritisiert die Mehrheit des Rates für ihr teilweises und vorsichtiges Abrücken von dieser Position. An manchen Stellen freilich erinnert Grimms Vorstoß an Don Quichotes Ritt gegen die Windmühlenflügel. Im globalen Konkurrenzkampf um Technologie- und Innovationsvorsprünge sind die hehren Regeln eines rein marktbasierten Wettbewerbs längst auf dem Müll gelandet. Dabei geht es nicht allein darum, dass bisherige Strategien des Westens gegenüber Chinas Staatskapitalismus ins Hintertreffen geraten, sondern erklärtermaßen um den Konkurrenzkampf innerhalb des Westens selbst. Hier funktioniert praktisch nichts mehr ohne staatliche Einflussnahme und öffentliche Finanzpakete. Das Bestehen auf Eigeninitiative und marktkonforme Lösungen ist häufig nur der Nebelvorhang, hinter dem es um den Angriff auf soziale und umweltorientierte Programme geht. Aber dass die Ratsmehrheit in der Frage „Markt oder Staat“, um es mal platt auszudrücken, bisherige neoliberale Ansichten zu relativieren scheint, kann bei aller Vorsicht doch als Anzeichen eines gewissen Wandels im ökonomischen Denken interpretiert werden. In früheren Jahren wäre Grimms Position jedenfalls die der Ratsmehrheit gewesen.
Was hat der Sachverständigenrat sonst so zu vermelden? In der Einschätzung der aktuellen Wachstumsaussichten ist man sich einig. Das BIP-Wachstum bleibe nach zwei Jahren des Rückgangs auch in diesem und dem nächsten Jahr mit 0,2 und 0,9 Prozent unterhalb des EU-Durchschnitts und im Vergleich zur Weltwirtschaft mehr oder weniger abgeschlagen. Und weiter: „Insbesondere die deutsche Industrieproduktion hat sich in den vergangenen Jahren deutlich schlechter entwickelt als im globalen Trend und ist in fast allen Wirtschaftszweigen des Verarbeitenden Gewerbes rückläufig. Dies spiegelt sich auch in den schwachen Exporten und privaten Investitionen wider. Die Investitionstätigkeit der Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe dürfte aufgrund der niedrigen Kapazitätsauslastung und der schwachen Umsätze im In- und Ausland weiterhin gedämpft bleiben. Die sich noch im Sommer 2025 andeutende verhaltene Erholung im Verarbeitenden Gewerbe ist zuletzt verpufft.“ Der jüngste Geschäftsklimaindex des Münchner ifo-Instituts zeigt auch wieder nach unten. Insgesamt also trübe Aussichten.
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