28. Jahrgang | Nummer 21 | 1. Dezember 2025

„Die Lage nach einem Atomwaffeneinsatz wäre unbeherrschbar – Punkt.“
Im Gespräch mit Medizinalrat Dr. med. Heinrich Niemann

Ich habe kein Verständnis dafür,

dass die Angst vor Atomwaffen

inzwischen auf null gesunken ist.

Altbundeskanzler Helmut Schmidt, im Jahre 2010

 

Wir haben genug Atomwaffen,

um die Welt 150-mal in die Luft zu jagen.

US-Präsident Donald Trump, heute

 

Die deutsche Öffentlichkeit steht seit längerem unter Dauerbeschuss seitens der Politik, der Geheimdienste und des Militärs sowie einer Mehrheit der althergebrachten Medien, dass ein Angriff Russlands auf NATO-Gebiet eher früher als später stattfinden könnte. Den Vogel schoss dabei jüngst Generalleutnant Alexander Sollfrank ab. Der Befehlshaber des Operativen Führungskommandos der Bundeswehr äußerte auf der Bundeswehrtagung 2025, Russland könnte „bereits morgen einen […] Angriff gegen NATO-Territorium starten“.

Täte Moskau dies und löste damit eine kollektive militärische Antwort des Nordatlantikpaktes gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages aus, wäre eine Niederlage Russlands, das im Bereich der konventionellen Streitkräfte kriegsentscheidend unterlegen ist (Blättchen 15/2022), der anzunehmende Ausgang. Für einen solchen Fall sieht die geltende russische Nukleardoktrin den Einsatz von Kernwaffen vor (siehe Blättchen 25/2024).

Vor diesem Hintergrund wurde das nachfolgende Gespräch geführt – mit Schwerpunkt auf den unmittelbaren Folgen einer Kernwaffenexplosion am Ort des Geschehens. Die langfristigen Konsequenzen eines mit hunderten oder gar tausenden von Atomwaffen geführten Krieges bis hin zur möglichen Auslöschung der menschlichen Zivilisation – Stichwort: nuklearer Winter – sind in diesem Magazin bei früheren Gelegenheiten thematisiert worden; siehe unter anderem Blättchen, Sonderausgabe vom 08.01.2018.

 

In „A House of Dynamite“, dem kürzlich angelaufenen neuen Film der US-Amerikanerin Kathryn Bigelow, taucht über dem Pazifik eine Interkontinentalrakete Richtung USA auf. Mit nuklearem Sprengkopf, wird vermutet; Chicago wird als Einschlagsort ermittelt, und mit zehn Millionen sofortigen Toten rechnet die FEMA, die US-Katastrophenschutzbehörde. Bei einem Vortrag in Berlin hat der US-Experte Theodore Postol, früher mal Pentagon, später Professor am MIT, kürzlich erläutert, was eine russische 800-kt-Wasserstoffbombe1 auf Berlin, der maximalen Wirkung wegen in zwei Kilometern Höhe gezündet, anrichten würde – beginnend mit einem Feuerball, der mit anfänglich 100 Millionen Grad Kelvin heißer wäre als das Zentrum der Sonne.2

Was hätten die (zunächst) Überlebenden in der betroffenen Region zu gewärtigen?

Heinrich Niemann: Wer nach einer Atomexplosion über einer Stadt noch in der Lage wäre, aus den Trümmern hervorzukriechen, oder wer sich aus größerer Entfernung dem Ort der Katastrophe näherte, der fände ein Gebiet unvorstellbarer Verwüstung vor – sämtliche Gebäude mit wenigen Ausnahmen praktisch dem Erdboden gleichgemacht, jegliche Infrastruktur (Straßen, Schienenwege, Versorgungssysteme für Wasser, Strom und Gas, Gesundheitseinrichtungen) und die natürliche Vegetation vernichtet. Fotos von Hiroshima und Nagasaki nach den US-Atombombenabwürfen im August 1945 sind im Internet zu finden, nur lägen die Dimensionen heute um ein Vielfaches darüber, weil die Sprengkraft moderner Atomwaffen die der damaligen meist um das viel Hundertfache übertrifft.

 

Was können das nationale Gesundheitssystem und der Katastrophenschutz unter solchen Bedingungen leisten?

Niemann: Wie wäre die medizinische Lage nach einer Atomexplosion über einer Großstadt? Neben dem massenhaften Auftreten von Strahlenkrankheit bei den Überlebenden, gegen die es heute so wenig eine wirksame Therapie gibt wie 1945, hätten Hitze und Druckwelle einer Atomexplosion Zehn-, wenn nicht Hunderttausende von schwer und schwerst brandgeschädigten sowie unter Knochenbrüchen, häufig multiplen, leidenden Opfern zu Folge. Und zwar in einer Größenordnung des Zwei- bis Dreifachen gegenüber der Anzahl der sofortigen Todesopfer.

Zugleich aber wäre in der betroffenen Region nahezu das komplette Gesundheitswesen nicht mehr funktionsfähig: das medizinische und pflegerische Personal wäre überwiegend tot oder selbst hilfebedürftig und die Gesundheitsinfrastruktur weitestgehend zerstört. Das war schon in Hiroshima und Nagasaki so. Daher würden die meisten Schwerverletzten in den auf die nukleare Explosion folgenden Tagen, Wochen und Monaten eines qualvollen Todes sterben.

Denn auch Hilfe aus anderen Regionen wäre nur in sehr unzureichendem Maße möglich. Aktuell gibt es in deutschen Krankenhäusern nach Angaben des Statistischen Bundesamtes zwar 26.000 Intensivbetten, doch die stehen ja nicht leer. Der durchschnittliche Auslastungsgrad liegt, Stand vom November 2025, bei 72 Prozent. Und wiederum nur ein Teil des Bestandes ist etwa für die erforderliche spezielle Behandlung von Verbrennungen zweiten und dritten Grades ausgelegt. Ebenso wenig sind die heutigen nationalen Kapazitäten für eine Schmerzen unterbindende palliative Sterbebegleitung nicht für die Masse an Fällen ausgelegt, die nach einer Atomexplosion über städtischem Gebiet zu bewältigen wären.

Alles in allem: Schon den Folgen der Explosion nur einer einzigen Atomwaffe über einer deutschen Großstadt wäre das nationale Gesundheitswesen nicht gewachsen, die eintretende Situation wäre unbeherrschbar.

Im Übrigen: Dass es bei einem Krieg mit Russland bei nur einer einzigen Atomexplosion auf deutschem Territorium bliebe, daran dürften nicht einmal pathologische Optimisten glauben.

 

Mit anderen Worten: Die Überlebenden würden die Toten beneiden?3 

Niemann: Davon muss ausgegangen werden. „Wir werden euch nicht helfen können“, lautete bereits zu Beginn der 1980er Jahre die Erkenntnis von Ärzten, die sich bei IPPNW mit den zu erwartenden Folgen eines Atomkrieges beschäftigt hatten. Trotz der seither in der Medizin erreichten Fortschritte hat sich daran nichts geändert, wie auf der IPPNW-Jahrestagung im Oktober in Nagasaki bestätigt wurde.

 

Trotzdem ist in Berlin und anderen deutschen Städten damit begonnen worden, Krankenhäuser und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens mit Blick auf einen möglichen Krieg mit Russland für die Versorgung der zu erwartenden zig-Tausenden von Frontverwundeten zu „ertüchtigen“. Unter anderem soll im Falle des Falles grundsätzlich der Vorrang des Militärs vor der Zivilbevölkerung gelten. Von einem potenziellen Kernwaffeneinsatz ist bei den beteiligten Behörden in diesem Zusammenhang seltsamerweise nirgendwo die Rede. Was halten Sie als Mediziner von solchen Aktivitäten?

Niemann: Dass die Akteure kein reines Gewissen haben, zeigt sich für mich daran, dass diese Aktivitäten überwiegend im Verborgenen stattfinden, jedenfalls nicht unter aktiver Einbeziehung der Öffentlichkeit. Und wenn ein Generaloberstabsarzt der Bundeswehr – der betreffende Medienbericht unter der Dachzeile „Wir sind qualitativ gut“ datiert auf den September 2025 – für den Fall eines Krieges zwischen der NATO und Russland mit 1000 Frontverwundeten nicht monat- oder wöchentlich, sondern täglich rechnet, die in Deutschland zu versorgen wären, dann kann jeder selbst spekulieren, wann unser Gesundheitswesen kollabierte. Auch wie „Deutschland im Bündnisfall zur Drehscheibe bei der Versorgung von Verletzten und Verwundeten aus anderen Ländern werden könnte“ (so der damalige Minister Lauterbach 2024), ohne in den Krieg hineingezogen zu werden, ist nicht nachzuvollziehen. Für mich ist entscheidend: Wer als Mediziner das Gesundheitswesen auf einen Ernstfall vorbereiten hilft, der das Risiko einer Eskalation auf die nukleare Ebene einschließt, der leistet der gefährlichen Illusion einer medizinischen Beherrschbarkeit der Folgen Vorschub und verletzt damit meines Erachtens mindestens implizit das Gebot des Hippokratischen Eides, Menschen „vor Schaden und willkürlichem Unrecht“ zu bewahren.

 

Auch privater Bunkerbau hat Medienberichten zufolge wieder zunehmend Konjunktur im Lande. Würden Sie dazu raten?

Niemann: Diese Frage dürfte sich nach dem bisher Gesagten von selbst beantworten. Der einzige wirklich effektive Schutz vor Atomwaffen besteht darin, ihren Einsatz nicht zuzulassen. Die Lage nach einem Atomwaffeneinsatz wäre unbeherrschbar – Punkt.

 

In den 1980er Jahren gingen die Menschen in der Bundesrepublik zu Hunderttausenden gegen den drohenden Atomtod auf die Straße. Wenn Putin heute mal wieder daran erinnert, dass Russland Atommacht ist und hiesige Politiker sowie Medien das beiläufig damit abtun, dass der Kremlchef nur bluffen würde, regt sich in der Öffentlichkeit – von einer marginalisierten Friedensbewegung abgesehen – niemand auf. Das gilt für die immer wieder aufflackernde Debatte, ob Deutschland sich nicht eigene Atomwaffen zulegen sollte, nicht minder. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Niemann: Das hängt meines Erachtens zum einen damit zusammen, dass das historische Gedächtnis der Gesellschaft heute ein anderes ist als am Übergang der 1970er zu den 1980er Jahren. Damals lebten noch zahlreiche Menschen mit eigenen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, die den öffentlichen Diskurs mitbestimmten. Die heranwachsende Generation wiederum wuchs im Kalten Krieg mit seinen regelmäßigen internationalen Zuspitzungen auf und erfuhr damit eine Grundsensibilisierung für die drohende Kriegsgefahr. Hinzu kommt, dass spätestens seit 2014 die deutsche Öffentlichkeit durch Politik und Medien auf das Feindbild Russland hin konditioniert wird. Inzwischen ist ja jede Drohne, die über einem sensiblen Ort gesichtet wird, automatisch eine russische, ohne dass bisher auch nur ein einziger Beweis dafür vorgelegt worden wäre … Ich halte die weit verbreitete gesellschaftliche Lethargie angesichts der aktuellen Atomkriegsgefahr für kreuzgefährlich. Die verschiedenen Friedenskräfte arbeiten nicht selten isoliert voneinander, unterschiedliche Sichten zu politischen Einzelfragen erschweren und versperren ein notwendiges zusammengehen und gemeinsames Handeln.

 

Sie selbst sind seit den 1980er Jahren in der Bewegung International Physicians for the Prevention of Nuclear War/IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung von Atomkrieg) engagiert. Wie kam diese Bewegung zustande?

Niemann: Die Initiatoren waren die international bekannten und zusammenarbeitenden Kardiologen Bernard Lown aus den USA und sein sowjetischer Kollege Jewgeni Tschasow. In der Sowjetunion war das in der Endzeit der als verknöchert geltenden Breshnew-Ära. Da war es sicher nicht von Nachteil, dass Tschasow zu den Leibärzten des sowjetischen Partei- und Staatschefs gehörte. Lown und Tschasow sowie noch zwei, drei weitere Ärzte von beiden Seiten trafen 1982 in Genf zusammen, konfrontierten einander zunächst mal damit, was ihnen an der jeweiligen Gegenseite alles nicht passte, wurden sich aber relativ schnell einig, dass die Gegensätze hinter dem übergreifenden Interesse, den Fortbestand der Menschheit zu sichern, zurückzustehen hatten. Damit war der Grundkonsens gefunden, auf dem die Bewegung bis zum heutigen Tage beruht.

IPPNW wurde übrigens schon 1985 mit dem Friedensnobelpreis geehrt.

Nach dem NATO-Raketenbeschluss von 1979 hatten sich die Ost-West-Konfrontation und die Kriegsgefahr außerordentlich verschärft. In solchen Zeiten herrscht üblicherweise Abgrenzung vor. Wie kam IPPNW trotzdem in die DDR?

Niemann: Von sowjetischer Seite gab es eine ausdrückliche Empfehlung, die DDR möge sich beteiligen. Engagierte Mediziner nahmen grenzüberschreitend Kontakt auf. Eine ungarische Forscherin wandte sich an den Biochemiker Mitja Rapoport. Der als Chemiewaffen-Experte international bekannte Pharmakologe Fritz Jung wurde angesprochen. Sechs Ärzte nahmen am 2. Weltkongress der IPPNW 1982 in Cambridge teil. Danach wurde noch 1982 die DDR-Sektion der IPPNW als ein Komitee von etwa 50 Ärzten ins Leben gerufen, das 1984 in Helsinki offiziell als Mitgliedsektion anerkannt wurde. (Nicht angebunden übrigens beim Friedensrat der DDR und damit beim internationalen Bereich im ZK des SED unter Hermann Axen, sondern beim Gesundheitsministerium.) Die Mitglieder wurden von den medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften, den Gewerkschaften Gesundheitswesen und Wissenschaften sowie vom Zentralrat der FDJ nominiert. 1986 gelang es, die Sektion für individuelle Mitgliedschaften zu öffnen. Wir waren dann auch international eine der ersten Sektionen, die Medizinstudenten zuließen. 1989 waren wir mit etwa 8000 Mitgliedern eine der stärksten IPPNW-Sektionen weltweit. – Ebenfalls 1982 entstand in der alten Bundesrepublik eine IPPNW-Sektion, die rasch an Umfang gewann.

 

Wie verbreitet ist IPPNW heute?

Niemann: IPPNW-Sektionen arbeiten heute in über 50 Ländern auf allen Kontinenten. Neben tausenden von Ärzten engagieren sich auch Menschen, die in anderen Gesundheitsberufen tätig sind, sowie Studenten entsprechender Fachrichtungen.

 

Sie waren kürzlich, im Oktober 2025, beim 24. IPPNW-Weltkongress in Nagasaki …

Niemann: Dort hatten wir unter etwa 350 Teilnehmern aus aller Welt, darunter etwa 30 der deutschen Sektion, einen produktiven Austausch.

Die starke indische Sektion und auch Vertreter aus afrikanischen Ländern wiesen auf die weltweiten Folgen eines Atomkrieges hin (nuklearer Winter, globaler Hunger).

In der Abschlusserklärung konnte unter anderem auf die positive Zwischenbilanz des internationalen Atomwaffenverbotsvertrages (TPNW) verwiesen werden, an dessen Initiierung IPPNW maßgeblich mitbeteiligt war. Inzwischen hat eine globale Mehrheit von 99 Staaten rechtliche Maßnahmen zum Vertragsbeitritt in die Wege geleitet und 74 davon haben den Schritt bereits vollzogen.

Große Erwartungen werden an die von der UNO und der WHO für 2026 geplante Überprüfungskonferenz über die gesundheitlichen, humanitären und umweltlichen Folgen eines Nuklearkrieges gerichtet.

Unser Ziel bleibt eine Welt frei von Atomwaffen.

 

Das Gespräch führte Wolfgang Schwarz.

 

Heinrich Niemann wurde 1944 in Reckwitz, Sachsen, geboren. Nach dem Abitur absolvierte er eine Lehre zum Motorenbauer, begann danach an der Humboldt Universität zu Berlin ein Medizinstudium, das er 1970 beendete. Er promovierte über internationale Tendenzen der Ärzteausbildung und ist Facharzt für Sozialhygiene. Von 1986 bis 1990 war er für die IPPNW-Sektion der DDR als einer der beiden Geschäftsführer verantwortlich. Er nahm unter anderem an den Internationalen Symposien zu Kernwaffenversuchen 1988 in Las Vegas und 1990 in Alma-Ata teil. Von 1992 bis 2006 war er gewählter Stadtrat im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, darunter elf Jahre verantwortlich für das Gesundheitswesen. 2005 vertrat Heinrich Niemann seinen Bezirk auf dem Weltkongress der „Mayors for Peace“ in Hiroshima.

  1. 800 kt (Kilotonnen) entsprechen einem Sprengkraftäquivalent von 800.000 Tonnen konventionellem Sprengstoff vom Typ TNT (Trinitrotoluol).
  2. Jede nukleare Explosion erzeugt Sofortstrahlung, Hitze, eine Druckwelle und radioaktiven Niederschlag (Fallout). Einen Abriss über die tödlichen Wirkungsweisen dieser Komponenten gibt François Diaz-Maurin: Nowhere to hide. How a nuclear war would kill you – and almost everyone else, Bulletin of the Atomic Scientists, October 20, 2022; zu einer deutschen Übersetzung hier klicken. Einen Überblick über die Folgen des Einsatzes einer Atomwaffe gegen eine Großstadt kann man sich auf Youtube verschaffen – zum Video hier klicken.
  3. Eine Vorstellung vom Vegetieren der menschlichen Überlebenden nach einer atomaren Apokalypse gab Ende der 1980er Jahre ein sowjetischer Spielfilm, der in der DDR zwar nicht in den großen Kinos, wohl aber in einigen kleinen – vor handverlesenem Publikum – gezeigt wurde. Titel: „Briefe eines toten Mannes“. Im russischen Original (englisch untertitelt) ist der Streifen im Internet zu finden.