28. Jahrgang | Nummer 17 | 6. Oktober 2025

Über Klüfte

von Detlef-Diethard Pries

Am 3. Oktober – diese Blättchen-Ausgabe befand sich im Endstadium ihrer Fertigung – wurde in Saarbrücken feierlich der Tag der Deutschen Einheit begangen. Vor zahlreich erschienener Prominenz, deren Begrüßung einen beträchtlichen Teil der Redzeit in Anspruch nahm, rief uns Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner als „Grundsatzrede“ angekündigten Ansprache zu einem „neuen Aufbruch“ mit „Zuversicht und Tatkraft“ auf. Während im Saarland mit Musik und Tanz gefeiert wurde, bekundeten mehr als zwei Drittel derer, die auf eine Blitzumfrage bei GMX reagierten, der Tag der Deutschen Einheit interessiere sie nicht. Gewiss war die Umfrage nicht repräsentativ. Aber ein Fingerzeig darauf, dass es mit der Einheit der Deutschen trotz pastoraler Sonntagsreden wohl nicht zum Besten steht, war sie doch.

Über wirtschaftliche und soziale Diskrepanzen, die der vielfach beschworenen Einheit entgegenstehen, ist im Blättchen bereits oft geschrieben worden. In dieser Ausgabe führt Ulrich Busch weitere Belege an. Indes bewegen viele Deutsche, und nicht nur sie, noch ganz andere gesellschaftliche Klüfte. Wenige Tage vor seiner Festrede traf der Bundeskanzler die nach eigener Aussage „schockierende“ Feststellung: „Wir sind nicht im Krieg, aber wir sind auch nicht mehr im Frieden.“ Dem ist schwerlich zu widersprechen. Was allerdings die Gründe für den „Nicht-Frieden“, die Hintergründe gegenwärtiger und drohender Kriege, wie auch die Benennung der „Kriegstreiber“ betrifft, gehen die Meinungen weit auseinander.

Auch der „Freundeskreis (im weitesten Sinne – ddp) des Blättchens“ bleibt vom Auseinanderdriften der Urteile nicht verschont. Wer die vorangegangene Ausgabe 16 und das Blättchen-Forum verfolgt hat, wird es wissen. Bei weitem nicht alle Kontrahenten stimmen Stephan Wohankas Plädoyer in unserem Forum zu, „dass der Austausch unterschiedlicher Meinungen, ja das Streiten darüber geradezu die Essenz des Blättchens ausmachen sollte“, was nach seinem Geschmack sogar häufig viel zu wenig der Fall sei. Aber der Trend in der Gesellschaft geht in eine andere Richtung: Dem Gegenüber wird nur getraut, sofern sich seine Argumente ins eigene Gedankengebäude einpassen lassen. Verweise auf Ursprünge und Entwicklungsgeschichte eines Konflikts werden abgetan. „Man muss jeden Krieg in seiner Geschichtlichkeit, in seinem Entstehen betrachten, sonst kann man ihn nicht beenden, Angriffskriege sind immer völkerrechtswidrig, aber warum wird das beim Ukraine-Krieg betont und nicht beim Krieg gegen Jugoslawien“, fragt der Poet, Komponist und Sänger Hans-Eckardt Wenzel im jüngsten nd-Interview. Das Geringste, was manche Kontrahenten ihm entgegenhalten werden, ist der Vorwurf des „Whataboutism“. Andere werden schwerere Geschütze auffahren und anklagend Russophilie oder „Putinismus“ unterstellen.

Auf ähnlich kurzem Weg werden die Verurteilung des israelischen Krieges in Gaza als Verbrechen und Verweise auf die Gründe arabischen Widerstands gegen die Besatzunspolitik im Westjordanland allzu schnell als Antisemitismus und „blanker Judenhass“ denunziert – ungeachtet deutlicher Distanzierung vom abscheulichen Terror der Hamas. Im einen wie im anderen Fall werden Erklärungen jedoch absichtsvoll als Rechtfertigung, Vergleiche als Gleichsetzung missinterpretiert.

Verschiedene Meinungen zu hören und zu lesen – auch kontroverse – ist wichtig, um sich selbst eine Meinung zu bilden. Viele Zeitgenossen sind indes gar nicht willens, ihre Meinungsblase zu verlassen, und nehmen nur noch zur Kenntnis, was ihr eigenes (Vor-)Urteil zu bestätigen scheint. Das ist, zugegeben, schwer erträglich und wirft die Frage auf, wie sich eine Redaktion wie die des Blättchens verhalten sollte. Selbstverständlich ist diese bescheidene Publikation nicht in der Lage, die Klüfte zu überbrücken. Selbst der Versuch einer Moderation (von lateinisch moderare – mäßigen) hätte etwas von Selbstüberschätzung. Aber darf man sich deshalb schweigend in die Ecke zurückziehen? Das Blättchen hat sich von Beginn an der Anregung und dem Austausch von Meinungen und Argumenten verschrieben – wissend, dass seine Leser anspruchsvoll und gebildet sind, dass sie bei uns weniger nach Halt als vielmehr nach Bereicherung eigenen Denkens durch Abgleich mit dem anderer suchen, wie es im Editorial bereits 2010 hieß – auf dass die Debatte auch im Streit produktiv werden kann für undogmatisches linkes Denken und Handeln.