28. Jahrgang | Nummer 17 | 6. Oktober 2025

Friedensbotschaft eines Neunzehnjährigen

von Jutta Grieser

Es gibt nur wenige Filme, die sich bleibend ins kollektive Gedächtnis einprägen. Einer heißt „Ich war neunzehn“. Wenn unverändert eine qualifizierte Mehrheit der Ostdeutschen sich nicht in einen Krieg gegen das russische Volk hetzen lassen will, dann hat dies auch mit jenem Antikriegsfilm der DEFA zu tun. Der kam 1968 in die DDR-Kinos, schon nach sechs Monaten hatten ihn zweieinhalb Millionen Zuschauer gesehen. Der Nachhall dauert an.

Der Autor und Regisseur dieses autobiografischen Kunstwerks, Konrad Wolf, verstarb 1982 mit 56 Jahren an Krebs. Am 20. Oktober jährt sich zum 100. Mal der Tag seiner Geburt. Aus diesem Anlass edierte Paul Werner Wagner die Vorlage dieses Films, Wolfs Kriegstagebuch, das dieser am 18. März 1943 zu schreiben begonnen hatte. Drei Monate zuvor, wenige Wochen nach seinem 17. Geburtstag, war der älteste Sohn des emigrierten deutschen Schriftstellers Friedrich Wolf zur Roten Armee einberufen worden. Er kam in die 7. Abteilung der Politabteilung der 47. Armee, die kämpfte damals an der Transkaukasischen Front gegen die faschistischen Aggressoren. In Kabardinka, einem Ferienort am Schwarzen Meer in der Nähe des von Wolfs Landsleuten besetzten Kuban-Brückenkopfes, beginnt sein Feldzug zur Befreiung seiner Heimat Sowjetunion und seines Vaterlandes Deutschland. Diese Unterscheidung nahm der Autor wiederholt in seinen Aufzeichnungen vor.

Wolf zieht mit seiner Propaganda-Einheit durch die Ukraine und Polen bis nach Berlin. Er übersetzt Flugblätter und die Verhöre deutscher Kriegsgefangener, fertigt Exzerpte von Rundfunknachrichten und wendet sich mit Lautsprecheransprachen an die „deutschen Kameraden“, damit sie die Waffen strecken. Und er schreibt privat. Nicht täglich, aber immer dann, wenn der Dienst es erlaubt. Über zwei Jahre lang tut er dies. So entsteht ein wahnsinnig interessantes Zeitzeugnis, das einzigartig und wohl auch deshalb klassisch zu nennen ist, weil es bedrückend aktuell wirkt. Nicht nur, weil insbesondere die Namen vieler ukrainischer Städte in den heutigen Nachrichten täglich genannt werden.

Wir wissen, dass Kriegszeiten die Menschen schneller altern lassen, als dies in Friedenszeiten geschieht. Milchbärte entwickeln sich in wenigen Monaten zu reifen Männern, die zu erstaunlichen Urteilen finden und eine Abgeklärtheit offenbaren, die keineswegs altersgerecht ist. Der Teenager Wolf macht da keine Ausnahme. Sein Blick ist bemerkenswert nüchtern, seine Kommentierung sachlich – und dennoch bisweilen poetisch. Ich kenne etliche Kriegsberichte, doch selten las ich derart Unheroisches. Wahrlich, zur patriotischen Erziehung taugt diese Hinterlassenschaft nicht – wohl aber zur Stärkung von Friedenssehnsucht und Antimilitarismus. Und das nicht zuletzt auch wegen seines ungeschönten, unzensierten Blicks auf die Mitstreiter. Darunter sind, wie überall im Leben, Ehrgeizlinge und Anscheißer, Kleingeister und Großmäuler. Er beschreibt mitunter Vorgesetzte, die ihn nicht nur versteckt antisemitisch piesacken, sondern auch offen schurigeln und kränken. „Er ist einfach ein Dummkopf“, schreibt er über einen Natschalnik. „Kein anderer als ein Dummkopf kann denken, dass alle seine Untergebenen ihn deshalb zu achten beginnen, weil er sich in den Sphären der großen Chefs bewegt, wenn er sie nachahmt und an seine Tür das Schild hängt ‚Ohne Anmeldung kein Eintritt‘. Wenn er auf zweifelhafte Weise Stiefel erwirbt und vier Uhren dazu. Für diese Zahl kann ich mich deshalb nicht verbürgen, weil er sie schon wieder abgesetzt hat.“ Gallig böse notiert Wolf am 17. Juni 1944: „Gestern zum Beispiel war er zu bequem, selbst zum Abendbrot zu gehen.“ Da musste Wolf, obgleich inzwischen selber Leutnant, ihm das Essen holen. Dann gibt es Maulhelden wie jenen, der seine Landsleute für einen verständnisvollen Umgang mit deutschen Kriegsgefangenen agitiert, indem er auf Konrad zeigt: „Seht her, der Genosse Leutnant ist auch ein Fritz!“ Das erinnert irgendwie an die berühmte Kuh im Propeller.

Auf der anderen Seite bewundert Wolf Mitstreiter, die sich widersetzen, die Mut auch vor den eigenen Genossen zeigen, etwa Wladimir Gall. „Wolodja ist Jude und macht daraus kein Geheimnis. Die deutsche Sprache, Literatur und Kultur liebt er über alles und meint, in jedem Deutschen einen direkten Nachfolger von Goethe, Heine oder Marx entdecken zu können.“ Dieser Hauptmann Gall wird Ende April ’45 als Parlamentär die Durchhaltekrieger in der Spandauer Zitadelle zur Kapitulation bewegen und damit das Leben von mehreren Hundert Zivilisten retten. Konrad Wolf beschreibt diese Episode in seinem Kriegstagebuch und in seinem Film und setzt damit seinem Freund in unterschiedlichen Medien ein Denkmal.

Die Veröffentlichung von Konrad Wolfs Kriegstagebuch, darin eingebettet einige überlieferte Briefe an den jüngeren Bruder Markus und die Schwester Lena, kann nicht anders als gerühmt und gelobt werden. Sie würdigt nicht nur den Autor, sondern passt auch in diese Zeit. Niemand hätte sich noch vor wenigen Jahren vorstellen können, dass die deutsch-russischen Beziehungen jemals wieder diesen Tiefpunkt erreichen würden, den sie seinerzeit hatten, als der neunzehnjährige Konrad Wolf Uniform trug. Denn die vorgelegte Publikation beweist nämlich auch, dass man aus den Schützengräben herausklettern und wieder ordentliche Beziehungen herstellen kann. Und das stimmt optimistisch. Irgendwie.

 Konrad Wolf: Kriegstagebuch und Briefe 1942-1945. Herausgegeben von Paul Werner Wagner, edition ost, 448 Seiten, 28 Euro.