28. Jahrgang | Nummer 14 | 18. August 2025

Lovis Corinth im Visier der Nationalsozialisten

von Klaus Hammer

Als Lovis Corinth sich 1918 vor der Staffelei bei der Arbeit malte, schien er den Schlaganfall, der ihn 1911 halbseitig gelähmt hatte, überwunden zu haben. Mit weit aufgerissenen Augen und bohrendem Blick fixiert er sich selbst im Spiegel. Doch dieser Spiegel ist unsichtbar, und der Betrachter, der dem prüfenden Blick des Künstlers begegnet, wird sozusagen an dessen Stelle versetzt. Sieben Jahre später, in seinem letzten Selbstporträt von 1925, zeigt der Spiegel, was das Dreiviertelprofil verschweigt, und die Bildmitte wird gleichsam durch den Spiegeltrick wieder vervollständigt. Der Wirklichkeit erfassende und schaffende Augen-Blick erscheint auf seltsame Weise starr, erschrocken, leidend und gleichzeitig gelassen. Dieser unaufhebbaren Spannung zwischen individuellem Dasein, unverwechselbarer Ichhaftigkeit und bedrängender existenzieller Erfahrung gibt der Künstler Ausdruck. Gerade seine späten Selbstbildnisse sind einzigartige Bilddokumente menschlicher Existenz, versehen mit Spuren und Wunden des so schicksalhaften Jahrhunderts.

Mit Max Liebermann und Max Slevogt ist Lovis Corinth immer wieder in die Reihe der bedeutenden deutschen Impressionisten eingeordnet worden. Doch kann er weder ausschließlich dem Impressionismus noch dem Expressionismus zugeordnet werden. Als großer Einzelgänger der Moderne wie die von ihm beeinflussten Max Beckmann und Oskar Kokoschka steht er über den Stilströmungen des 20. Jahrhunderts. Er war der Maler sinnenfroher Schöpfungen wie ernster und blasphemischer religiöser Themen, mythologischer Travestien wie sarkastisch verfremdeter Historienbilder, er war der Porträtist seiner Familie wie bedeutender und weniger bedeutender Mitglieder der Gesellschaft, malte den kaiserlichen Großadmiral Tirpitz wie den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert „mit derselben Pietät wie vorher die Regenten“. Mit dem skandalumwitterten, als „Sado-Porno“ bezeichneten Bild „Salome mit dem Haupte des Johannes“ (1901) begründete er seinen Ruhm in Berlin, und sein Altersstil, geprägt durch die stilistischen Wandlungen bereits vor und dann nach Überwindung seines Schlaganfalls, überraschte die Zeitgenossen erneut durch den visionären Ausdruck, die Übertragung des sinnlichen Moments in eine ganz neue Sprache, das Sehen in der Totale, das Ineinander von Nah und Fern.

Sein 100. Todestag ist in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel zum Anlass genommen worden, die Wege seiner Werke zu verfolgen, die die Nationalsozialisten vor allem in ihrer Aktion „Entartete Kunst“ 1937 ins Visier genommen hatten. Während die Vertreter der NS-Kulturpolitik an Corinths Frühwerk weniger Anstoß nahmen, wurden dessen spätere, stark expressiven Werke als „undeutsch“, als „entartet“ bezeichnet. Der führende Ideologe der Nazi-Partei Alfred Rosenberg diffamierte den Künstler als „Schlächtermeister des Pinsels“. 1937 wurden allein 359 Bilder Corinths in Hitler-Deutschland beschlagnahmt, darunter auch ein großer Teil der Sammlung der Berliner Nationalgalerie. Sieben Corinth-Werke, darunter drei aus der Nationalgalerie („Ecce Homo“, „Das Trojanische Pferd“, „Kind im Bett“) wurden in der Propaganda-Ausstellung „Entartete Kunst“ in München vorgeführt.

In einer Sonderausstellung werden nun die Wege der Corinth-Bilder in die und aus der Nationalgalerie aufgezeigt. Einige sind unter merkwürdigen Umständen nicht erst in der Nachkriegs-, sondern schon in der Nazi-Zeit wieder in die Nationalgalerie zurückgekehrt, einige sind in anderen Besitz oder verloren gegangen. Letztere werden in Form von Reproduktionen dargestellt. 28 von den über 300 druckgrafischen Blättern Corinths im Berliner Kupferstichkabinett wurden 1937 beschlagnahmt, 16 davon kehrten in der Nachkriegszeit wieder zurück.

Einbezogen werden auch die Bilder seiner Frau Charlotte Berend-Corinth, einer gefragten Porträtistin, die als Jüdin und Vertreterin der Moderne 1933 bedroht war, 1939 in die USA emigrierte, 1967 in New York starb und ihre Retrospektive in der Ostberliner Nationalgalerie im gleichen Jahr nicht mehr selbst erleben konnte. Ihre beiden Bilder in der Nationalgalerie – das Porträt des später von den Nazis diffamierten Architekten Hans Poelzig (1926) und das „Selbstbildnis mit Modell“ (1931) – blieben in der Nazi-Zeit verschont. Dagegen wurde ihr Gemälde „Toledo“ (1925), das 1929 an das Preußische Kultusministerium verkauft worden war, dort als ein Werk der „Verfalls- und Judenkunst“ aussortiert und 1939 der Nationalgalerie zur Verwahrung übergeben. So kam das Museum unerwartet in den Besitz eines meisterlichen Werkes.

1926 hatte die Nationalgalerie den ein Jahr zuvor verstorbenen Corinth noch in einer großen Gedächtnisausstellung gewürdigt. Im Anschluss schenkte seine Witwe ein Hauptwerk, „Das Trojanische Pferd“ (1924), in dem das berühmte Motiv aus Homers „Ilias“ in eine „hintergründige Vision von Bedrohung und Untergang“ (A. Wesenberg) verwandelt wird, der Nationalgalerie, wo es 1937 beschlagnahmt und in der Schau „Entartete Kunst“ in München vorgeführt wurde. 1939 konnte es mittels eines fingierten Bildertausches zurückgeholt werden. Das psychologisch ergreifende Porträt „Donna Gravida“ (1909) mit der hochschwangeren Charlotte Berendt als Modell war 1916 die erste Erwerbung eines Gemäldes von Corinth durch die Nationalgalerie gewesen. Es entging 1937 der Beschlagnahmung, anders als 17 weitere Werke Corinths in der Galerie. Ein Teil der als „entartet“ konfiszierten Werke – darunter auch neun Gemälde von Corinth – wurde als „international verwertbar“ eingestuft und in einem Depot des Berliner Schlosses Schönhausen gelagert. Das ikonische Gemälde „Ecce homo“ aus Corinths letztem Lebensjahr 1925 – es war 1937 als „entartet“ in München gezeigt worden – befand sich darunter. Hier hat der Künstler die Geißelung Christi in die Gegenwart versetzt; mahnend und wie durch einen Schleier entrückt symbolisieren die Figuren Grundkonflikte des Jahrhunderts. Neun Corinth-Gemälde kehrten nach 1945 nicht mehr in die Nationalgalerie zurück; sie werden in Reproduktionen vorgestellt. „Ecce Homo“ wurde 1939 von der Schweiz für das Kunstmuseum Basel erworben und blieb so erhalten.

Unter den in der Nationalgalerie beschlagnahmten Werken befand sich auch ein frühes Familienbild, Margarete Rupf mit ihren sechs Kindern (1901). Jedes Einzelporträt wird hier in einem anderen Licht wiedergegeben, und doch sind alle Figuren in ein und dieselbe Farbenharmonie getaucht. 1937 als „entartet“ verfemt, wurde dieses außergewöhnliche Gruppenbild 1939 aber mit zwei anderen Werken Corinths an die Nationalgalerie zurückgegeben. So auch die in ihrer Gesamtkonzeption so stimmige „Inntal-Landschaft“ (1910), die die NS-Kunstkommission zwar als „genial“ in der Darstellung der Landschaft, aber als „Verfall“ in der Widerspiegelung des Himmels angesehen hatte.

In der Nachkriegszeit kehrten drei Gemälde von Charlotte Berendt-Corinth auf die Museumsinsel in Ost-Berlin zurück. Die sieben verbliebenen Corinth-Gemälde befanden sich im Westteil Berlins, während auf der Museumsinsel der vollständige Verlust erst durch sechs Neuzugänge in den 50er und 80er Jahren ausgeglichen werden konnte. Nach der Wiedervereinigung wurden die Werke Corinths aufgeteilt: In der Alten Nationalgalerie werden die frühe Moderne des 19. Jahrhunderts und die eher traditionsbezogene Kunst gezeigt, in der Neuen Nationalgalerie die Kunst des 20. Jahrhunderts mit den Avantgarden der klassischen Moderne. Die Gemälde Charlotte Berend-Corinths aus den 1920er Jahren sind der Neuen Nationalgalerie zugeordnet worden.

Mit dieser Schau wurde in der Alten Nationalgalerie ein wichtiges Kapitel Restitutionsgeschichte – der Wiederherstellung von Eigentumsverhältnissen der Corinth-Werke – geleistet.

Im Visier! Lovis Corinth, die Nationalgalerie und die Aktion „Entartete Kunst“. Alte Nationalgalerie, Museumsinsel Berlin. Dienstag bis Sonntag 10 – 18 Uhr, bis 2. November (der Beitrag des Kupferstichkabinetts kann nur bis 28. September gezeigt werden). www.smb.museum/ang