Täusche ich mich oder trifft es zu: In den Zeitungen stehen immer weniger Rezensionen klassischer Konzerte. Bekanntlich wird überall gespart, insbesondere bei der Kultur – warum also nicht auch hier? Auf der anderen Seite: Die Besprechung einer einzigen, unwiederholbaren Veranstaltung macht wenig Sinn. Bücher, Ausstellungen, Theaterstücke, Filme oder andere künstlerische Hervorbringungen lassen sich nach der Empfehlung neuerlich rezipieren (oder ignorieren) – ein Konzert hingegen ist ein temporärer Kunstgenuss, ein kurzer Rausch der Sinne. Ist der letzte Ton verklungen, bleibt allenfalls ein Hochgefühl oder eine Enttäuschung zurück, weil die Einsätze nicht stimmten, der Dirigent langweilig war oder die Erste Geige besser nicht auf diesem Stuhl gesessen hätte …
Ich entsinne mich der Diskussionen über Sinnhaftigkeit von Konzertbesprechungen in der Kulturabteilung einer Tageszeitung, in der ich etliche Jahre tätig war. Eine selbst musizierende Redakteurin war prädestiniert, über musikalische Groß- und Kleinereignisse zu schreiben, was sie mit beachtlicher Leidenschaft und Häufigkeit auch tat. Doch die Kunstbanausen in der Redaktion fragten sie unverblümt, ob sie wirklich meine, dass es – bis auf die Beteiligten und die Besucher des besprochenen Konzerts – jemanden wirklich interessiere, wie die Streicher ihrer Bögen über die Katzendärme hätten gleiten lassen: ob con furoro oder furioso, oder ob, wenngleich piano vom Komponisten vorgegeben, auf oder gegen Geheiß des Dirigenten der Klangkörper forte gespielt habe. Das sei erstens zu speziell und zweitens zu singulär: Beim nächsten Konzert würde es schon ganz anders klingen. Entweder weil sich die Musiker ihre kritischen Auslassungen in der Zeitung zu Herzen genommen hätten. (hahaha) Oder weil bekanntlich Schönheit nicht nur im Auge des Betrachters, sondern auch im Ohr des Zuhörers läge. Jeder Mensch höre bekanntlich anders. Nachgewiesenermaßen sehe man auch nur mit dem Herzen gut …
Die von allen Kollegen menschlich durchaus geschätzte Kollegin pflegte dann heulend den Raum zu verlassen, und allen Kritikern tat es nun leid, ihr so direkt die Gretchenfrage gestellt zu haben. Doch jeder und jede am Tisch wusste, dass die rhetorische Frage hundertprozentig berechtigt war. Auf die Vergänglichkeit des Moments hatte schon Goethes Faust verwiesen: „Verweile doch! Du bist so schön!“ Ein Konzert, sei es noch so berauschend gewesen, war vorbei, wenn es vorbei war. Was also dann diese nachgerufenen Petitessen im Feuilleton des Blattes, wo doch hunderte Expositionen, Druckwerke, Inszenierungen und TV- und Kinoereignisse medialer Kenntnisnahme harrten?
Möglicherweise hat diese Einsicht zur Verbannung von Konzertrezensionen geführt, und wenn es denn doch einmal Beiträge über musikalische Veranstaltungen gibt, kaprizieren sich die Rezensenten meist mehr auf das Drumherum als auf die Musik selbst. Von der Höhe der Ticketpreise über die Auswahl der Musikstücke bis hin zur Stimmung im Publikum. Wir alle kennen das.
Ich bin da keine Ausnahme.
Anfang Juli zum Beispiel hatte die Berliner Philharmonie zu einem Konzert des „China Horn Ensemble“ in den Kammermusiksaal geladen. Es war der einzige Berliner Auftritt von zwölf Chinesen, die virtuos ihre Waldhörner beherrschen, und das Publikum quittierte mit Beifall die Ansage, dass justament einer ihrer Kollegen als erster chinesischer Solohornist nach erfolgreich bestandener Probezeit von den Philharmonikern angestellt worden und zur Stunde mit diesen auf Tournee in Japan sei. So kommt es, dass Yun Zeng aus Sichuan, ausgebildet am Konservatorium in Beijing, als einziger Hornist namentlich in diesem Text hier Erwähnung findet.
Die zwölf Herren unterschiedlichen Alters waren als „Chinas erstes professionell betriebenes Hornensemble“ avisiert worden, das seit zehn Jahren auf internationalen wie nationalen Bühnen musiziere. Und jetzt sei man wieder aufgebrochen nach Europa, um eine Brücke der Kultur zu schlagen. Unausgesprochen also waren sie auf Mission, um das zu leisten, was offenkundig die gegenwärtige Politik nicht bringt. Einige Plätze neben mit saß ein mir bekannter Diplomat aus der chinesischen Botschaft, den ich auf den Besuch seines Chefs in Berlin am Vortag ansprach. Die Medien hatten vermeldet, dass das vierstündige Gespräch zwischen den Außenministern Wang Yi und Johann Wadephul hinter verschlossenen Türen kontrovers und hart verlaufen sei, also nichts gebracht habe. Der Diplomat reagierte auf meine diesbezügliche Frage gewohnt diplomatisch. Der Dialog sei umfassend und ehrlich, sehr konstruktiv und sachlich gewesen. Berlin habe sich zur Ein-China-Politik bekannt und einen Besuch des Bundeskanzlers noch in diesem Jahr avisiert. Na dann.
Die Blechbläser intonierten vor der Pause europäische Stücke von Strauß über Mascagni bis Puccini, nach der Pause welche aus ihrer Heimat. Als Zugabe kam dann, wen überrascht’s, Paul Linckes „Berliner Luft“, was das Publikum – zum großen Teil chinesischer Herkunft – zu rhythmischem Klatschen animierte. Und auch Klaus Wallendorf wurde aktiv: Er setzte die bekannten Pfiffe an der richtigen Stelle. Wallendorf war bis zu seiner Pensionierung 2016 sechsunddreißig Jahre Hornist bei den Philharmonikern gewesen und hatte, damals von Simon Rattle zum „Hofpoeten auf Lebenszeit“ berufen, launig durchs Programm der Bläser geführt und sich dabei einiger chinesischer Idiome bedient. Aus der Heiterkeit im Saale schloss ich, dass er wohl nicht die richtige Betonung getroffen hatte. Bekanntlich sind auf Mandarin sechs möglich. Aber was soll’s: Der Wille zählt.
Weder kann noch will ich etwas über die Lippenfertigkeit der Hornisten, ihr souveränes Spiel und das harmonische Zusammenwirken berichten, nichts über die Arrangements der Stücke und den langen Atem der Bläser. Es war einfach ein schöner Sommerabend mit einem wohltemperierten Weißwein in der Pause.
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