Mit dem Glauben ist das so eine Sache … Und doch glaubt der Mensch, solange er lebt. Als Kind an Osterhasen und den Weihnachtsmann, voll seligen Vertrauens noch; etwas zweifelnder vielleicht schon an Riesen, Zwerge, Hexen und Zauberer. Aber die kommen ja auch in Büchern vor und heute im Fernsehen: also wird es sie schon geben! Als Konfirmand 1945 tat ich zum ersten Mal etwas wider besseres Wissen: ich sprach das christliche Glaubensbekenntnis und war mir deshalb innerlich böse, nicht ohne gleichzeitig noch immer an den „Endsieg“ zu glauben, das aber wohl aus Mangel an für mich erkennbaren Alternativen hierzu; aberwitzig war es allemal.
Später glaubt man an Freundschaft und das Edle im Menschen, an die Verheißungen der Werbung und die Lügen der Politik, an vermeintliche Vorbilder, an Außerirdische, an Fake News, zuletzt womöglich sogar an ein Weiterleben nach dem Tod.
Zielpunkt all dieser Glaubensakte sind Dinge, die es in der Lebenswirklichkeit normalerweise gar nicht gibt, die nur in der Phantasie existierten, in Wunschbildern oder aber: die einem vorgegaukelt, gedanklich aufgezwungen werden. Andererseits: wenn jemand sagt, er glaube, dass ein Kilo Rindfleisch eine gute Bouillon ausmache, so glaubt er das ja nicht, sondern er weiß es, aus Erfahrung. Und das ist genau der springende Punkt: glauben oder wissen.
Seit ewigen Zeiten hat dieser Dualismus vor allem das religiöse Denken geprägt. Ein schönes Beispiel hierfür ist ein häufig zitierter und kommentierter Satz aus dem theologischen Diskurs des Frühchristentum: „Credo quia absurdum est“ (deutsch etwa: „ich glaube, obwohl [oder gerade weil] es widersinnig [unglaubwürdig] ist“). Gemeint ist wohl vor allem das „Mysterium von Golgatha“, also der Bericht von Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi, der als Sohn Gottes angesehen wurde. Für die einen galt eine solche Haltung als Ausdruck eines besonders festen Glaubens, der nur im Gegensatz zur Vernunfterkenntnis möglich sei, für andere als Niederlage, ja Zurücknahme eben dieser menschlichen Vernunft.
Eine frühe Form von Meinungsfreiheit? Jedenfalls landete man noch nicht auf dem Scheiterhaufen der Inquisition, wie das „Andersdenkenden“ drohte, als das Christentum im späteren Mittelalter dogmatisch erstarrt war.
Warum ich das alles erzähle? Man muss nicht dreimal raten, die Antwort liegt offen auf der Hand. Auch wir erleben zurzeit ein Szenarium, das voller Absurditäten ist, während die Vernunft, das kritische Denken, der gesunde Menschenverstand zunehmend auf der Strecke bleiben. Im Klartext: Außer den Orakelsprüchen der Medien, den Beschwörungen der Politik, den Planspielergebnissen der Militärs wissen wir genaugenommen nichts über den „Fall“, nichts, was beweiskräftig oder nachprüfbar wäre. Und doch wird aus diesem Nichts das Schreckensbild einer „absoluten Gewissheit“ hergeleitet: nämlich daß Putin nach der Ukraine spätestens 2029 ein weiteres Land angreifen werde: Polen? Litauen? Vielleicht sogar – alles ist möglich – Portugal?
Sehr rätselhaft der ganze Vorgang, aber Hauptsache man glaubt, selbst an das Unglaublichste, stramm und ohne Widerspruch, wie es sich für einen kriegsertüchtigten Bürger gehört. Und also wird aufgerüstet, vom Nordkap bis zur Straße von Gibraltar, koste es was es wolle, und wenn das zivile Europa daran zugrunde geht. Wer an dieser Logik zweifelt, sich seines eigenen Kopfes zu bedienen wagt, Alternativen ins Spiel bringt, läuft Gefahr, zumindest moralisch auf dem Scheiterhaufen zu landen.
Und doch werden sich mündige Bürger (es gibt sie noch!) nicht die Freiheit nehmen lassen, hierzu auch weiterhin unbequeme Fragen zu stellen, beispielsweise diese: Warum wird Russland immer wieder unterstellt, ein bestimmtes Land angreifen zu wollen, wobei doch jedem klar ist, dass ein solcher Akt sofort die Gesamtheit sämtlicher NATO-Staaten herausfordern würde, die dem Aggressor selbst bei ihrem derzeitigen Stand der Vorbereitungen militärisch weit überlegen sein dürften. Und da Putin das weiß und kein politischer Selbstmörder ist, wird sein behaupteter Angriff wohl rein hypothetisch bleiben. Oder: ist er überhaupt in der Lage, einen solchen Angriff durchzuführen, da seine Streitkräfte ja mitunter Wochen benötigen, um eine einzige ukrainische Kleinstadt zu erobern? Und: Was sollte er mit einem eroberten Polen oder Litauen eigentlich anfangen? Fragen, die bisher noch niemand beantwortet hat, die wohlweislich aber auch noch nie gestellt worden sind.
Und als Epilog: Könnte hinter dem Fünf-Prozent-Rüstungsbeschluss nicht auch das Kalkül stecken, jetzt vielleicht doch noch zu schaffen, was Napoleon, der deutsche Kaiser, Hitler, der Westen im „kalten Krieg“ erfolglos versucht hatten: nämlich Russland endlich in seine Schranken zu verweisen?
Schlagwörter: Gerhard Schewe, Glauben, NATO, Russland


