14. Jahrgang | Nummer 18 | 5. September 2011

Verwandlungsvirtuose, Einfühlungsartist, Staatsschauspieler

von Reinhard Wengierek

Den „Jud Süß“ hat er nicht gespielt. Doch statt der Hauptrolle in Veit Harlans NS-Hetzfilm gleich fünf Nebenrollen. Alles Juden, und jeder als niederträchtige Type verzeichnet. Werner Krauß hat sich gedrängt danach; sein Kollege Fritz Kortner hat ihm das nie verziehen. Später schämte sich Krauß für sein antisemitisches „Jud Süß“-Mittun. Und entschuldigte sich beständig damit, keinerlei Sinn „für Politik“ gehabt zu haben. Bei den „Entnazifizierungsprozessen“ kam er, wenn auch mit knapper Not, damit durch als „Minderbelasteter“. Seine „Sühne“: Ein „Sonderbeitrag“ von 5.000 Reichsmark, was etwa zehn Prozent der Gage für „Jud Süß“ entsprach.
Als der Schauspieler Werner Krauß zehn Jahre später, 1959, starb, delirierten die Nachrufe: Singulärer Epochenkünstler; sein Spiel sei ein Ausdruck gelebter Naivität gewesen, sei einer aufrichtigen, seltsam hintergründigen Einfalt sowie unablässiger Phantasie entsprungen.
Werner Krauß (1884-1959) galt unisono als einer der größten Schauspieler seiner Zeit. Er war der erste Spieler deutscher Zunge, dessen Tod die Medien europaweit beklagten. Noch ein Halbjahrhundert nach seinem Tod findet man 200.000 Internet-Seiten über diesen Mann von „nüchterner Blondheit“; den Faun mit Bratschenstimme. Nein, er zählte nicht zu den „Gutaussehenden“ und fand sich selbst äußerlich „eher ausdruckslos“. Umso intensiver deshalb seine scheinbar ganz natürlichen Kraftakte für die Wirkung, die Publikumsüberwältigung als Einfühlungsartist. Krauß – der klassische Aus-dem-Bauch-Spieler. Der bewunderte Magier einer völlig eigenständigen, stücktragenden Rollendarstellung von riesiger Spannweite. Weshalb er mit diktatorischen Regisseuren wie Max Reinhardt quer lag. Krauß konnte man nichts vorspielen, was Reinhardt so gern tat, der das „bunte Talent“ Krauß dennoch (allerdings in Maßen) schätzte. Man vermochte nicht, es auf die Ideen eines Regisseurs umstilisieren. Einem derart phänomenalen Verwandlungsvirtuosen, der alle großen, alle Hauptrollen des Repertoires gespielt hat, galt es denn auch als vollkommen suspekt, wenn ein Schauspieler „ich ist“. Das Schlimmste sei, sich selber zu spielen.
Dieser sagenhaft autosuggestiven Selbstaufgabe durch Spiel geht der österreichische Theaterwissenschaftler Wolff A. Greinert (Jahrgang 1944) in seiner Krauß-Biografie akribisch, zuweilen in der Detailversessenheit sich wiederholend nach. Damit verbunden ist die Suche nach dem Menschen Kraus. Als Künstler fing er – jenseits einer seriösen Ausbildung – ganz klein an; noch als fahrender Gesell an widrigsten Schmieren. Dann spielte er sich ziemlich rasch über Provinzbühnen steil empor nach Berlin ans Deutsche Theater sowie das Preußische Staatstheater, nach Wien an die Burg sowie zu den Salzburger Festspielen. Mit der analytischen Beschreibung dieses sensationellen Aufstiegs aus kleinsten Klitschen bis in die ehrwürdigsten Theatertempel entfaltet der Autor einen so anschaulichen wie faszinierenden Panoramablick auf den überaus reichen, schillernden Bühnenbetrieb eines Halbjahrhunderts, in dem das Theater noch, vom Film vorerst schüchtern angefochten, absolutes Leitmedium war in der darstellenden Kunst.
Ein ruhmreiches Künstlerleben wird da auf gut 300 Seiten (nebst informativem Anhang) besichtigt und seiner Wirkung ausführlichst nachgegangen im Riesenspiegel der Kritik. Carl Zuckmayer, dessen Wilhelm Voigt im „Hauptmann von Köpenick“ Krauß uraufführte, schrieb hingerissen: Aus der Einheit von Geistigem und Natürlichen, „von Begnadung und Arbeit, Sein und Streben, ’Zauberei’ und exakten Stilmitteln“ sei die „ungeheure Wirkung“ auf der Bühne zu erklären, was wohl das Wesen des Genies sei.
Befremdlich steht man freilich solchen Huldigungen gegenüber angesichts der Verführbarkeit des Privilegierten, dem immerhin bevorzugte Informationsmöglichkeiten offen standen.
Werner Krauss blieb dennoch schwer beeindruckt vom „Nazibrimborium“, das er auch, elegant zivil, auf dem Obersalzberg genoss, wo ihm Hitler als „Jesus unter den Jüngern“ vorkam. – Krauß, der reine Tor, der reine Künstler, das reine Genie inmitten politischer Explosionen und Katastrophen und von denen gespenstisch unberührt. Die klassische Misere – durch kaltes Wegschauen, raffinierte Selbsttäuschung, geniale Dummheit?. Greinerts Buch macht darum keinen Bogen: Das mentale Entrücktsein des durchaus realistisch Theater spielenden Staatskünstlers; also weg von den verbrecherischen Zeitläuften und hinein in ein musisches Elysium – das bleibt das Widerliche an diesem Gottbegnadeten.

Wolff A. Greinert: Werner Krauß. Schauspieler in seiner Zeit 1884 bis 1959, 92 Abb. und ein Verzeichnis der Theaterrollen, Universitas, Wien 2009, 399 Seiten, 29,95 Euro