28. Jahrgang | Nummer 1 | 13. Januar 2025

Windhorst – Bismarcks widerspenstiger Zungendrescher

von Detlef Jena

Wer in den letzten Wochen die Moritat vom selbstlosen Opfergang der FDP im Namen demokratischer Rechtstaatlichkeit in all seinen skurrilen Verästelungen verinnerlicht hat, kann nur noch bitterlich weinen. Wer hat dem Jung Christian nur das Lindenblatt zwischen die Schultern geklebt, als er sich im Kampfe gegen den Drachen in dessen rot-grünem giftigen Blute mannhaft verteidigte? Wer ist die schöne Kriemhild unserer unromantischen Tage oder gar der finstere Hagen von Tronje mit dem scharfen Blick fürs Lindenblatt? Oder ist Jung Christian vielleicht nur in das eigene scharf geschliffene verbale Schwert gestolpert. Wer weiß das schon, wer will es sagen!

Die Freien Demokraten stehen im morbiden Dämmerschein einer Tradition, deren Blüte bereits im 19. Jahrhundert mehr oder weniger erstrahlte. Sie verfügen in der aktuellen Politik einfach nicht mehr über jene Persönlichkeiten, die den Zeitsprung vom liberalen Nationalstaat der Vergangenheit zum multinationalen Irgendwas im Sinne ihres eigenen Sendungsbewusstseins glaubhaft überbrücken können. Konstitution, Parlament, Freihandel oder die Trennung von Kirche und Staat sind kein liberales Alleinstellungsmerkmal mehr, sondern Allgemeingut vieler bürgerlichen Parteien, die sich so scharfsinnig als wabernde Mitte der Gesellschaft deklarieren.

Was bleibt den Freien Demokraten also überhaupt noch? Das tief empfundene und so schwer zu definierende amorphe Gefühl, dass liberale Konsensfähigkeit ein recht nützliches Mittel zum friedvollen Miteinander sein könnte?! Darauf basiert zwar auch die fatale Zufriedenheits-Masche das Volk manipulierender medialer sozialen Umfragen. Aber die Politik „machenden“ Liberalen wollen ja gerade an dieser Manipulation profitabel teilhaben. Das ist ihr Geschäft und Dilemma. Insolvenzen sind da unvermeidlich.

Doch wie war das im 19. Jahrhundert?

Ach, wie sich doch die Bilder gleichen! Als 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde, gab es bereits die „Nationalliberale Partei“. Sie war damals so populär, dass sie bei den Reichstagswahlen 1871 mit über 30 Prozent der Wählerstimmen die stärkste Fraktion im Reichstag stellte und diese Position über acht Jahre halten konnten. Eigentlich verwundert diese Tatsache angesichts der Blut- und Eisen-Politik des Kanzlers Bismarck. Aber man war ja listig und flexibel und wusste um die Bedeutung der Wunderwaffe „Koalition“. Die Liberalen arbeiteten gern mit Bismarck zusammen, erwarben sich den Ruf einer „Quasi-Regierungspartei“ und konnten sich mit ihrem Anteil an der sprudelnden Gesetzgebung Bismarcks im ersten Jahrzehnt des Nationalstaats schmücken. Dabei galten sie schon damals im politischen Geschäft als eine reine Honoratiorenpartei mit schwacher Mitgliederbasis. Zwei Organisationsprinzipien verliehen ihnen Kraft. Die Reichstagsfraktion leistete die politische Hauptarbeit und stützte sich primär auf die Kooperation mit den Interessenverbänden der Industrie. Das hatte zur Folge, dass die Liberalen sich mehr und mehr auf den völkisch und imperialistisch ausgerichteten „Alldeutschen Verband“ orientierten. Bismarck sah diese Entwicklung mit wachen Augen und nutzte sie, indem er die Liberalen sowohl in seinen berüchtigten Kulturkampf gegen die katholische Kirche, als auch bei der Einführung des Sozialistengesetzes gegen die Sozialdemokratie vor seinen Karren spannte.

Doch dann kam es doch noch zu einer „roten Linie“, an der die Zweisamkeit mit dem Kanzler zerbrach. Liberale und Freihandel – das war ein ehernes Monument, gegen das die Schutzzollpolitik Bismarcks elementar verstieß. Doch statt dass die Liberalen sich vehement dagegen wehrten, zerbrach die nationalliberale Einheit der Partei. In wenigen Jahren zerbröselte sie immer weiter. Mit dem „Heidelberger Programm“ von 1884 schwenke sie, so der Historiker Hans-Ullrich Wehler, auf eine „bismarcktreue, stramm nationale, etatistische und imperialismusfreundliche“ Politik ein. Das kostete dann auch entsprechende Stimmen bei den Wählern …

Da war doch ein Mann namens Windhorst vom parlamentarisch konkurrierenden katholischen „Zentrum“ aus ganz anderem Holz geschnitzt!

Ludwig Johann Ferdinand Gustav Windthorst war ein kurzsichtiger kleiner Mann mit einem sehr großen Kopf. Der wuchs zum denkwürdigen politischen Gegenspieler Bismarcks heran. Windhorst hatte es immer schwer im Leben. Nur unter Mädchen aufgewachsen, katholisch im protestantischen Welfenlande Hannover, ertrotzte er sich zäh und unerbittlich, ausgerüstet mit messerscharfem Verstand und brillantem Intellekt, den Zugang zum politischen Leben. Der Jurastudent in Göttingen und Heidelberg bot alle Kräfte auf, aus seiner mittelalterlichen Glaubenswelt in den politischen Realismus eines Bismarck vorzustoßen.

Man nannte ihn einen „echten Jesuiten“. Das war eher anerkennend als spöttisch zu verstehen. Durch Fleiß, Ehrgeiz und Anpassungsfähigkeit schaffte es der Katholik tatsächlich, als Politiker im protestantischen Hannover Fuß zu fassen. Im Verfassungskonflikt von 1837, der die „Göttinger Sieben“ Amt und Würden kostete, stand Windthorst unerschütterlich an der Seite seines Königs. In wenigen Jahren stieg er zum ersten katholischen Minister in Hannover auf und bewies ein bemerkenswertes Gespür für die Balance zwischen der von Krisen geplagten Monarchie und den Ansprüchen der aufstrebenden Bürgergesellschaft.

Windthorst wäre als katholisch leuchtender Stern am politischen Himmel der Niedersachsen in die Geschichte eingegangen, wenn Preußen das Königreich Hannover nicht 1866 annektiert hätte. Unter der Losung „Abstinenzpolitik ist Faulheit oder Dummheit“, stürzte sich der kleine Mann vor und nach der Reichseinigung von 1871 in den politischen Kampf um den konstitutionellen Ausbau des Reichs. Er kannte nur ein großes Ziel: Begrenzung des preußischen Übergewichts und der Dominanz des eisernen Reichskanzlers Bismarcks durch die Stärkung des Parlaments und der Verfassung.

Auf diesem Wege war bereits im Dezember 1870 das „Zentrum“ gegründet worden, das bei den Wahlen zum ersten Reichstag zweitstärkste Partei wurde und 63 Abgeordnete stellte.

Bismarck entwickelte, aufs höchste erzürnt über die papistischen „Ultramontanen“, eine besondere Verschwörungstheorie: Das „Zentrum“ sei das Sammelbecken aller politischen, regionalen und religiösen Gegner des Reichs! Der von Bismarck inszenierte Kulturkampf diente dem Primärziel, das „Zentrum“ und die katholische Kirche als politische Kraft auszuschließen. So wurden die parlamentarischen Rededuelle zwischen dem Kanzler und Windthorst legendär. Wenn Bismarck polemisierte, die Zentrumsfraktion mache gegen den Staat mobil, konterte Windthorst, der Kanzler sollte sich gefälligst nicht mit dem Staat verwechseln. Bismarck wiederum unterstellte, Windthorst hätte den Sieg der Franzosen im Krieg gewünscht, wäre also ein Landesverräter, der aus der Fraktion ausgeschlossen gehörte. Windthorst reagierte: „Wenn solche Verdächtigungen erlaubt sind, wenn man damit die Wirksamkeit eines Abgeordneten einschüchtern will, dann, glaube ich, sind wir nahe an einem Terrorismus, der das freie Wort unterdrückt.“

Diese Art des gepflegten parlamentarischen Dialogs wiederholte sich unzählige Male. Der Unterschied: Windthorst argumentierte politisch, Bismarck nahm es persönlich: „Mein Leben erhalten und verschönen zwei Dinge: meine Frau und Windthorst. Die eine ist für die Liebe da, der andere für den Hass.“ Nicht einmal Bestechlichkeit konnte der Kanzler dem ehemaligen Minister aus Hannover vorwerfen. Windthorst war überzeugt: „Wer etwas auf sich hält und unabhängig sein will, nimmt nichts geschenkt.“

Dieses Verständnis von Unabhängigkeit erlaubte es ihm auch, sich nicht nur für die katholische Kirche einzusetzen, sondern selbst den Sozialdemokraten Respekt zu erweisen oder jede Form des politischen Antisemitismus von sich zu weisen. Trotz oder gerade wegen der staatlichen Gesinnungsschnüffelei rief er während des Kulturkampfes zum zivilen Ungehorsam auf. Windthorsts Mut, Standhaftigkeit und Risikofreude hat wesentlich dazu beigetragen, dass Bismarck den Kulturkampf verlor. Selbst in der Niederlage grollte er noch über den „welfischen Zungendrescher“, der lediglich den Frieden im Reich störte. Das musste er über die Liberalen nicht sagen. Deren arteigenes Refugium, die Freiheit des Individuums, geriet d schon damals mehr und mehr in die konjunkturell wechselnden Angebots-Regale wohlfeiler Markenprodukte.