27. Jahrgang | Nummer 26 | 16. Dezember 2024

Trumps Sieg und die internationale Ordnung

von Stephan Wohanka

Der Wahlsieg regt zu strategischen Denkspielen an. Thomas Fasbender, beeindruckt von Trumps Wahlsieg, schreibt vor einem Monat in der Berliner Zeitung: „Jetzt ist es an den Europäern, eins und eins zusammenzuzählen. Die wertebasierte Außenpolitik, auch das schöne Sprüchlein von der Stärke des Rechts statt des Rechts des Stärkeren – alles heiße Luft. Mit Donald Trump im Weißen Haus, Wladimir Putin im Kreml und Xi Jinping in Zhongnanhai wird internationale Politik wieder zu dem, was sie seit Entstehung der ersten Staaten vor rund 5000 Jahren war: zur Kunst, Interessen zu formulieren, zu berücksichtigen und auf deren Basis möglichst stabile, möglichst langlebige Ordnungen zu gründen“.

Ja? Es wäre das Paradies auf Erden! „Langlebige Ordnungen“; beinahe Kants „ewiger Frieden“. Die wahren Weltprobleme wie Klimawandel und Hunger könnten angegangen werden … Ich bin skeptisch: Was aus „formulierten und berücksichtigten staatlichen Interessen“ wahrscheinlicher folgt als „möglichst stabile, möglichst langlebige Ordnungen“ sind zwischenstaatliche Auseinandersetzungen und Kriege!

Zwei von Fasbenders Protagonisten stehen dafür – Putin und Xi. Fangen wir mit Putin an. Man muss ihm zuhören (man hätte ihm schon immer zuhören müssen); er sagte desgleichen nach Trumps Wahlsieg: „Im Laufe der Jahrhunderte hat die Menschheit sich daran gewöhnt, dass Konflikte letztlich durch den Einsatz von Gewalt gelöst werden. Wer stärker ist, hat recht. Auch dieser Grundsatz gilt. Länder müssen ihre Interessen bewaffnet verteidigen, sie mit allen Mitteln behaupten“. Putin redet nicht nur, mit dem Überfall auf die Ukraine macht er es auch vor! Keine „heiße Luft“, sondern heißer Krieg anstelle „langlebiger Ordnungen“. Es sei denn, man nähme diesen als Aufgalopp für eine pax russia, eine „Ordnung“ von Russlands Gnaden.

Der Autokrat Putin verfolgt seit 2001/2002 eine imperiale Politik mit dem Ziel, Russlands Einfluss in der Welt zu erweitern, ihm geopolitische Machtpositionen bis zu einer führenden globalen Rolle zu sichern. Er fährt einen anti-westlichen Kurs. Er sieht sich als Vollstrecker der historischen Mission, Russlands einstige Größe wiederherzustellen. Das Denkbild der „russkij mir“ (russische Welt) bildet den ideellen Rahmen für die Krim-Annexion, die Aggression gegen die Ukraine und das permanente Zündeln durch Separatisten in „abtrünnigen“ Gebiete wie Transnistrien (Moldau). Die Souveränität Russlands ist sakrosankt, die Souveränität anderer Staaten ist Spielball von Russlands imperialen Zielen.

Eine energisch betriebene Armeereform begleitete das Ganze; jedoch war die von Korruption zerfressene, ein trauriges Bild abgebende Armee bisher nicht in der Lage, den Ukrainekrieg zu gewinnen. Offen bleibt (noch), wie gestärkt oder geschwächt Russland daraus hervorgeht. Der „brain drain“ („Abfluss von Gehirn“) von gut ausgebildeten Menschen zu Kriegsbeginn und nach Mobilisierungen wurde potenziert durch erhebliche Verluste an Soldaten. Das schwächt langfristig die wirtschaftliche Innovationsfähigkeit und das demografische Gewicht des Landes. Der Übergang zu einer Kriegswirtschaft lenkt beachtliche Ressourcen in die Rüstungsproduktion; die westlichen Sanktionen tun ein Übriges. Die Armee hat an Kampferfahrungen gewonnen. Russland eine „Art Afrika mit Atomwaffen“?

Der Kollaps des syrischen Assad-Regimes ist ein herber Rückschlag für Russlands geopolitische Ambitionen. Konnte oder wollte Putin für dessen Verteidigung nicht mehr einstehen? Was sind Russlands Allianzen für die Partner noch wert?

Zu Xi. In seiner Neujahrsrede für 2024 verkündete er: China werde mit Taiwan „mit Sicherheit wiedervereinigt werden“, die Vereinigung sei „historisch unvermeidbar“; wie wohl? Vor einem Jahr klang Xi deutlich milder: „Die Menschen auf beiden Seiten der Taiwanstraße sind Teil der gleichen Familie“. In jüngster Zeit hat China seine militärische Einschüchterungsversuche gegen Taiwan verstärkt und versucht, den Status quo der Taiwanstraße einseitig zu ändern. Innen- und wirtschaftspolitisch geschwächt, wird Chinas Auftreten im Indopazifik aggressiver.

Für Chinas weltweite hegemoniale Ansprüche steht das Seidenstraßen-Projekt, offiziell Belt and Road Initiative (BRI). Ohne detailliert auf Themen wie Zugang zu Märkten, strategische Infrastruktur oder Abhängigkeiten von Investitionen – das Beispiel von Sri Lankas Hambantota-Hafen zeigt, wie Schulden zu langfristiger wirtschaftlicher und geopolitischer Abhängigkeit führen – einzugehen, positioniert China die BRI als kooperatives „Win-Win-Projekt“, betont aber gleichzeitig seine Rolle als unverzichtbarer Anführer. In zentralasiatischen Staaten wie Kasachstan oder Kirgisistan führt das zu einiger Besorgnis über Chinas wirtschaftliche Dominanz und wachsenden Einfluss.

Was Chinas Verhältnis zu übrigen Nachbarländern angeht, so reicht der Bogen von gespannt bis entspannt. Der Grenzkonflikt mit Indien in der Region Ladakh und Arunachal Pradesh konnte entschärft werden. Beide Länder konkurrieren jedoch um Einfluss in Asien. Zu Vietnam bestehen historisch enge Verbindungen, die durch Konflikte im Südchinesischen Meer deutlich getrübt sind; letzteres trifft auch auf die Philippinen, Malaysia und Indonesien zu: Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer bei gleichzeitigen guten Handelsbeziehungen. Laos, Myanmar und Kambodscha sind stark von China abhängig und unterstützen oft Pekings Position. Die Mongolei ist in wirtschaftlicher Abhängigkeit befangen; die kulturelle Identität der Mongolei führt zu Vorbehalten gegenüber einer zu engen Anlehnung an China. Mit Russland ist das Land durch eine auf wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit abzielende strategische Partnerschaft verbunden. Gemeinsame Interessen, wie die Ablehnung westlicher Dominanz, fördern die Zusammenarbeit, so in der Shanghai Cooperation Organization (SCO). Trotzdem gibt es unterschwellige Spannungen aufgrund historischer Rivalitäten (Höhepunkt war der Grenzkrieg 1969 am Fluss Ussuri) und Russlands Besorgnis über Chinas wachsenden Einfluss in Zentralasien.

Letzterer kann zu einer pax sinica führen, wobei – bis vielleicht auf Taiwan – die Volksrepublik als ein autokratisches Einparteiensystem subtilerer Methoden der Unterwerfung und Persuasion einsetzt als das brachiale Russland.

Der – strategisch – erratisch und disruptiv handelnde Trump hat wohl nicht vor, ein anderes Land aus nationalen Interessen des Make America great again anzugreifen. Wobei„great again“ auch das Eingeständnis von Abstieg der „Supermacht“ USA ist! Wenn schon Krieg – dann weltweite Handelskriege. Auch die haben nichts mit „langlebigen Ordnungen“ gemein. Für gültige Kommentare ist es zu früh. Trump ist noch nicht Präsident und stellt erst seine exekutive, überaus illustre Mannschaft aus schillernden bis ultrarechten Hardlinern zusammen. Alles andere ist Spekulation.

Neben Russland und China sollte man Indien nicht außer acht lassen. Noch ringt das Riesenreich um eine richtige Balance zwischen der Eindämmung der nicht nur gefühlten Bedrohung durch das immer mächtigere China und der Bewahrung seiner traditionellen Blockfreiheit. Der nationale Stolz und die über Generationen kultivierte Treue zum Prinzip der politischen Unabhängigkeit hindern die Regierung in Neu-Delhi, eine (Militär)Allianz gegen China zu bilden. Auch sind die potenziellen politischen Kosten für einen Bruch mit China, der zu einem möglichen Austritt Indiens aus der BRICS-Gruppe und der SCO führen könnte, (noch) zu groß, ebenso wie die Gefahr eines möglichen Abrutschens in eine unwürdige Juniorpartnerschaft zu den USA.

Dass die EU, obwohl von Größe, Einwohnerzahl und Wirtschaftsleistung her durchaus geeignet, ein globales Kraftzentrum mit eigenen Interessen zu bilden, ein solches tatsächlich wird, dazu fehlt mir die Fantasie.

Die von Russland, China und anderen gegen die Dominanz der USA beschworene Multipolarität wird darin bestehen, dass es nicht mehr nur einen „Weltgendarm“ geben wird, sondern deren mehrere, die gegenteilige „Ordnungen“ verfolgen werden. Zwar mögen Staaten „Interessen formulieren“ können – den Ton geben aber wieder (autokratische) Großmächte an. Ob so „stabile und langlebige Ordnungen“ entstehen können, sei dahingestellt, denn der jeweilige „Hegemon“ wird (regional) vor allem seine Belange und Ziele durchsetzen, was die Stabilität der „Ordnungen“ natürlich infrage stellt. Auch wird das „Spiel“ zwischen Recht und Macht in die nächste Runde gehen. Ob eine solche Neuordnung des geopolitischen Machtgefüges das Potenzial hat, mehr Stabilität und Frieden zu bringen als das abgelaufene, in vielerlei Hinsicht desaströse „amerikanische Jahrhundert“ wird sich erweisen müssen.

Ich gebe zu, an Kants „ewiger Frieden“ zu denken, war schlicht vermessen …