27. Jahrgang | Nummer 25 | 2. Dezember 2024

Wählen in Zeiten abnehmenden Lichts

von Waldemar Landsberger

Die „Ampel-Regierung“ ist Geschichte. Sie wurde für untauglich befunden, zuletzt auch seitens der beteiligten Parteien. Parteipropagandistisch waren SPD und FDP hauptverantwortlich für den Streit und das Scheitern. Die wechselseitigen Beschuldigungen gaben den Medien Stoff.

Dabei kamen die Grünen erstaunlicherweise gut weg. Und das, obwohl eigentlich das „Heizungsgesetz“ von Wirtschaftsminister Robert Habeck den größten Unmut und die lautesten Proteste in der Bevölkerung hervorgerufen hatte; während die grüne Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrer „wertegeleiteten“ Außenpolitik in der Welt kaum noch ernst genommen wird, was den internationalen Ruf Deutschlands ruiniert. Habeck hat kaum Ahnung von Wirtschaft, wusste nicht einmal, was eine Insolvenz ist; Baerbock hat keine ernstzunehmenden Vorstellungen von deutschen außenpolitischen Interessen. Dass wir die offenbar schlechteste deutsche Regierung seit 1949 hatten, scheint besonders auf deren Konto zu gehen. Die lauthalsen Streitereien zwischen SPD und FDP haben davon abgelenkt. Die bisherigen Grünen-Bundesvorsitzenden, Ricarda Lang und Omid Nouripour, stellten sich als Bauernopfer zur Verfügung, nahmen alle Verantwortung für die desaströsen Wahlergebnisse 2024 auf sich und traten zurück. Lang unter ostentativen Tränenausbrüchen.

Die eigentlichen Probleme in Sachen Wählen liegen jedoch tiefer. Im Grunde hat keine der Parteien heute eine Vision, wie es mit der deutschen Gesellschaft weitergehen soll. Die Christdemokraten, auf die die Kanzlerschaft nach der Wahl wohl zulaufen würde, stehen für einen Konservatismus und wirtschaftlichen Neoliberalismus, der hinter Angela Merkel zurückgehen will, verstärkt durch eine antirussische Außenpolitik, die hinter Helmut Kohl zurückwill. Das hat mit Zukunft im 21. Jahrhundert nichts zu tun. Die AfD fordert deutsche Friedensaktivitäten in Bezug auf den Ukraine-Krieg, vertritt in Bezug auf die Gesellschaftspolitik jedoch rückwärtsgewandte Positionen. Die wären inhaltlich bei der CDU anschlussfähig, die jedoch mit der AfD nichts zu tun haben will. Der FDP fällt außer der Schuldenbremse und Steuersenkungen für die Besserverdienenden nichts ein.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) nimmt richtige Positionen in der Sozial- und Friedenspolitik ein; ob es aber die Kraft zu einer politisch einflussreichen, regierungsfähigen Partei findet, scheint derzeit offen. Die verbliebene Linkspartei bleibt fokussiert auf woke Identitätspolitik städtischer, akademisch mehr oder weniger gebildeter Schichten und in der Friedensfrage zerrissen. So wurde am 19. November im sächsischen Landtag über die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland debattiert. Die AfD stellte einen Antrag, in dem die Landesregierung aufgefordert wurde, sich beim Bund gegen diese Pläne auszusprechen. „Fachlich schlecht und dann noch abgeschrieben“, bemerkte dazu das BSW im Landtag, stimmte am Ende jedoch dem Antrag zu. CDU, SPD und Grüne stimmten naturgemäß dagegen, sind sie doch ausdrücklich für diese Stationierung. Hätte die Linke dem Antrag zugestimmt, wäre er wohl durchgekommen. Aber wenn der von der AfD kommt, kann man schon mal mit den Kriegsparteien stimmen.

Die SPD hat nicht nur kein Programm mehr, sondern leidet zugleich unter deutlichem Realitätsverlust. Die ARD-Tagesthemen (21.11.24) hatten gefragt, wer denn ein „guter Kanzlerkandidat“ sei. Bei Boris Pistorius (SPD) bejahten dies 60 Prozent, bei Friedrich Merz (CDU) 42 Prozent, Robert Habeck 34 Prozent, Alice Weidel (AfD) 30 und Olaf Scholz (SPD) 21 Prozent. Das heißt, die SPD zieht mit dem am wenigsten angesehenen Kanzlerkandidaten ins Rennen. Bei der „Sonntagsfrage“ kam die CDU/CSU auf 33 Prozent, die SPD und die Grünen auf je 14 Prozent, die FDP auf 4, die AfD auf 19, die Linke auf 3 und das BSW auf 6 Prozent. Damit kämen FDP und Linke nicht wieder in den Bundestag und die Union hat allein mehr Stimmen als die drei Ampel-Parteien zusammen. Die Ampel ist „durch“, wie man so sagt, und als politisches Projekt für 20 Jahre erledigt.

Hauptverantwortlich für die Ergebnisse des Wirkens einer Bundesregierung ist immer der Kanzler. Gleichwohl bekundete Scholz frohgemut: „Wir wollen das Land weiter gut führen.“ Man reibt sich die Augen. Welches Land hat er wann „gut“ geführt? Sigmar Gabriel – fast acht Jahre lang SPD-Vorsitzender und über acht Jahre Bundesminister, darunter vier Jahre Vizekanzler – betont: „Die SPD ist ein Hohlkörper geworden, ohne innere und äußere Haltung.“ Die Führung denke nur noch taktisch und vor allem darüber, wie man am besten in ein Ministeramt kommt. Es gibt kein überzeugendes Parteiprogramm, der Alltag der Menschen spielt „keine wirkliche Rolle“. Der linke USA-Senator Bernie Sanders sagte nach der Wahlniederlage von Kamala Harris: „Es sollte nicht überraschen, dass eine Demokratische Partei, die die Arbeiterklasse im Stich gelassen hat, feststellt, dass die Arbeiterklasse sie im Stich gelassen hat.“ Das dürfte auch die SPD bei der nächsten Bundestagswahl treffen.

Die Grünen verkünden weiter große Pläne zur Abschaffung der bisherigen Industrie und Rohstoff- und Energieversorgung, die jedoch in keinerlei Verhältnis zur geschrumpften industriellen Basis des Landes stehen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) rechnet in diesem Jahr mit einem Rückgang um drei Prozent; das ist das dritte Jahr in Folge mit rückläufigen Zahlen. Oder klar gesagt: seit die Ampel regiert. Der Fahrzeugbau verzeichnete per September einen Produktionsrückgang um 6,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, der Maschinenbau ein Minus von 8,5 Prozent und die Elektroindustrie von 10,7 Prozent. Die Probleme bei Volkswagen sind nur die Spitze des Eisbergs. Weniger Produktion bedeutet weniger Steuereinnahmen und weniger Sozialausgaben, zugleich steigen die Preise und die Inflation. Das wird nicht ohne politische Folgen bleiben.

Habeck verhält sich ähnlich wie Scholz. Auf dem Grünen-Parteitag, auf dem er auf den Schild gehoben wurde, sagte er scheinbar selbstkritisch: „Ja, ich habe Fehler gemacht.“ Beim Heizungsgesetz seien „Fehler gemacht worden“. Auf die Idee, dass das Heizungsgesetz als solches der Fehler war, kommt er nicht. Kurz nach dem Scheitern der Ampel setzte sich Habeck vor die Kamera, zeigte ein neues Freundschaftsband am Handgelenk vor und rief zu weiteren Aktivitäten der grünen Anhängerschaft. Insofern sind 14 Prozent bei der Sonntagsfrage für die SPD ein historischer Tiefststand, für die Grünen eine noch immer passable Größenordnung.

Zugleich wurde in den vergangenen Jahren ein neuer polizeilich-juristischer Mechanismus der Unterbindung von Kritik geschaffen. In heutigen Zeiten geraten Entscheidungsträger häufig ins Visier von Schmähkritik im Internet. Ein Mann aus dem Kreis Kronach hatte Annalena Baerbock als „dümmste Außenministerin der Welt“ bezeichnet, andere Politiker aus SPD und FDP hatte er ebenfalls geschmäht und wurde zu einer Geldstrafe von 9600 Euro verurteilt. Der Focus hatte bundesweit die Strafanzeigen (zwischen September 2021 und August 2024) gezählt, die allermeisten sind „grün“. Auf Habeck kommen 805 Anzeigen, auf Baerbock 513. Mit weitem Abstand folgen Marco Buschmann (FDP) mit 26 und unter anderen Boris Pistorius mit 10, Klara Geywitz (SPD) mit 2 Anzeigen. Nancy Faeser, Karl Lauterbach und Christian Lindner stellten keine Strafanzeigen, obwohl sie nicht weniger Ziel von Hasskommentaren im Netz waren.

Bei einem Mann im Kreis Haßberge stand am 12. November die Polizei vor der Tür. Dem Beschuldigten war laut Staatsanwaltschaft Bamberg vorgeworfen worden, im Frühjahr 2024 auf der Internetplattform X eine Bilddatei hochgeladen zu haben, die an den Werbeauftritt der Haarkosmetikmarke Schwarzkopf angelehnt war und hier ein Porträt von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zeigte mit dem Schriftzug „Schwachkopf PROFESSIONAL“. „Durch Herrn Dr. Habeck wurde Strafantrag gestellt“, hieß es. Die Polizei hatte deshalb um 6.15 Uhr bei dem Mann geklingelt, der noch barfuß und im Schlafanzug war, und eine Hausdurchsuchung vorgenommen, wobei „ein Tablet des Beschuldigten sichergestellt“ wurde.

Auf der Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung findet sich der schöne Satz von Winston Churchill: „Wenn es morgens um 06.00 an meiner Tür läutet und ich kann sicher sein, dass es der Milchmann ist, dann weiß ich, dass ich in einer Demokratie lebe.“