Der englische Essayist, Lexikograf und Aufklärer Dr. Samuel Johnson (1709-1784), ein gebildeter, geistreicher Mann, der in seiner Person das enzyklopädische Bildungsstreben des Bürgertums verkörperte, erzählte 1783 ausführlich von der wunderbaren Größe und Vielfalt Londons und bemerkte, dass man mit Wissbegier und Forschungsdrang hier Lebensweisen entdecken kann, die sich kaum jemand vorzustellen vermöge. Er empfahl uns vor allem, Wapping, direkt am Wasser der Themse gelegen, zu erkunden.
Das wollen wir gerne mit Forscherdrang tun, denn Johnson muss hellseherische Fähigkeiten gehabt haben. Nur 28 Jahre später ereigneten sich im Raum Wapping im Osten Londons bestialische Verbrechen, wie man sie sich kaum vorstellen kann. Die Kriminalschriftstellerin P. D. James (1920-2014) und ihr ehemaliger Kollege T. A. Critchley (1919-1991) von der Kriminalabteilung des britischen Innenministeriums, wo sie vor ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete, haben diesen Fall in ihrem Sachbuch „Die Morde am Ratcliffe Highway“ (deutsch 2003) dem Vergessen entrissen. Wieder ein Beispiel dafür, dass sich die wirklichen Krimiautoren auch mit wahren Verbrechen beschäftigen.
Was war geschehen? Am 7. Dezember 1811 wurden zunächst der 24-jährige Herrenausstatter Timothy Marr, seine Frau Celia und der 14 Jahre alte Lehrling James Gowan im Geschäfts- und Wohnhaus der Marrs, Ratcliffe Highway Nr. 29, erschlagen vorgefunden; ein wenig später fand man im Keller den erst drei Monate alten Sohn der Marrs in seiner Wiege mit durchgeschnittener Kehle, so dass der Kopf fast vom Körper abgetrennt war. Die Tat ereignete sich zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Am Tatort sicherte man den blutverschmierten Hammer eines Schiffszimmermanns mit abgebrochener Spitze, und man vermutete, dass mit diesem Werkzeug die drei Opfer erschlagen wurden. Auch das Stemmeisen eines Maurers konnte gesichert werden.
Am 8. Dezember 1811 gab die zuständige Gemeinde St.-George’s-in-the-East einen Handzettel (ein Fahndungsblatt) heraus und bat um Unterstützung bei der Mördersuche.
Die Leichen wurden, wie damals in Ermangelung von gesellschaftlichen Höhepunkten üblich, den Schaulustigen freigegeben. Man hatte, schrieben James und Critchley, „wenig Kontrolle über den Strom der Nachbarn und Bekannten, der Neugierigen und am Morbiden Interessierten aus ganz London. Sie stiegen in endlosen Reihen die schmalen Stufen zu den Räumlichkeiten hinauf, die im wahrsten Sinne des Wortes zum Leichenschauhaus geworden waren. Die Leichen lagen vollständig ausgeblutet und mit unbedeckten, klaffenden Wunden hingestreckt wie geschlachtete Tiere.“
Am 19. Dezember 1811 ereigneten sich abermals, nur wenige hundert Meter vom Haus der Marrs entfernt, in der New Gravel Lane Nr. 81 grausame Morde, obwohl das Lokal „King’s Arms“ einen erstaunlich guten Ruf besaß. John Williamson, der Schankwirt, seine Frau Elizabeth und die Bedienstete Bridget Anna Harrington waren die Opfer. Der Handwerksgeselle John Turner, Mieter im „King’s Arms“, ging früh zu Bett. Als die Gaststätte geschlossen wurde, hörte er Schreie und sah eine Person, die sich über einen am Boden liegenden Körper beugte. Von Angst erfasst ließ er sich mit Hilfe eines Betttuches aus dem Fenster seines Zimmers im zweiten Stock herab und rief „Mord! Mord!“
Der Nachtwächter verschaffte sich gemeinsam mit Nachbarn Zugang zum Haus und fand die drei Opfer erschlagen vor, mit durchgeschnittenen Kehlen. Aber die Enkelin Kitty Stillwell lag unversehrt und schlafend in ihrem Bett.
Die Friedensgerichte Shadwell, Bow Street und The River Thames Police Office Wapping, in deren Territorien die Morde geschahen oder viele Verdächtige festgenommen wurden, gingen davon aus, dass ein- und derselbe Täter die Morde verübte. Oder waren es gar mehrere?
Die jeweils zuständigen Laien-Friedensrichter waren entweder „gutwillige Dilettanten“ oder durchaus Fachleute wie Aaron Graham in der Bow Street, der sich durch eine logische und deduktive Arbeitsweise auszeichnete sowie stets auf die Verifizierung der Fakten beharrte. Da war es für die vielen Verdächtigen schon großes Pech, dass die Zuständigkeit bei den Friedensrichtern in Shadwell lag, die nur das Offensichtliche wahrhaben wollten. Sie glaubten, jede Tätigkeit, wie ineffektiv und unüberlegt sie auch sein mochte, sei besser als gar keine.
Eine Wende im Fall trat dadurch ein, dass man John Williams im Pub „The Pear Tree” in Wapping verhaftete. Der adrette junge Mann war 27 Jahre alt, hatte gute Manieren, blondes Haar und ein gefälliges Äußeres. Als Seemann hatte er sich im Haus des Schankwirtes Robert Vermilloe und dessen Frau eingemietet. Aber verhaftet wurden noch viele andere Verdächtige.
Nach der Überprüfung aller Zeugenaussagen schickten die drei Friedensrichter von Shadwell eine kurze Notiz an den Innenminister Richard Ryder: „Sie werden in den Zeitungen von den Vernehmungen eines gewissen Williams gelesen haben, die in diesem Gericht stattgefunden haben. Sie sind ziemlich genau wiedergegeben, daher halten wir es für überflüssig, die Einzelheiten zu wiederholen. Morgen findet eine weitere Vernehmung statt, und obwohl vieles gegen ihn spricht, sind wir noch nicht sicher, ob er sich als der gesuchte Mann erweisen wird.“
Den Friedensrichtern war also aufgefallen, wie dürftig und widersprüchlich die Indizien waren, so dass sie am Ende der letzten Vernehmung von John Williams keineswegs von seiner Schuld überzeugt waren.
Am 28. Dezember 1811 sollte Williams abermals vernommen werden, aber die Friedensrichter, eine große Anzahl von Zeugen und das sensationsgierige Publikum warteten vergebens auf ihn. Der Gefangene war tot – gerichtet durch die eigene Hand hieß es. Schnell waren die Friedensrichter von Shadwell davon überzeugt, dass sich Williams durch den „Selbstmord“ schuldig gesprochen hatte.
Dennoch wurden weitere Verdächtige und Zeugen vor dem Friedensgericht vernommen, das wohl völlig überfordert tagte. Es gab ein heilloses Durcheinander von Namen wie Ablass, Cahill, Cobbett, Cuthperson, Driscoll, Fitzpatrick, Harrison, Hart, Richter, Trotter, Vermillioe. Bei der Fortsetzung der Anhörung wurden die öffentlichen Vernehmungen endgültig zur Farce. „Wahrscheinlich verloren die unglücklichen Friedensrichter von Shadwell, die von den Komplikationen des Falls schon verwirrt genug waren (es war eigenartig, dass Cahill behauptet hatte, bei einem Mr. Williamson am Ratcliffe Highway zu wohnen), nun angesichts zwei weiterer zufällig identischer Namen vollständig den Überblick“, so James und Critchley.
Dann ging es sehr schnell. Alles, was die Friedensrichter hatten, war ein vager Indizienbeweis gegen Williams und die unumstößliche Tatsache seines Todes, offensichtlich durch Selbstmord. Warum also weiter suchen?
Am 31. Dezember ab zehn Uhr wurde die Leiche von John Williams auf einer geneigten Holzplattform, die sich auf einem Karren befand, stundenlang gut bewacht durch diesen Teil von Ostlondon gefahren. Die Dekoration war angemessen: Auf der linken Seite des Kopfes war der blutverschmierte Zimmermannshammer aufrecht stehend befestigt, auf der rechten ebenso aufrecht stehend das Stemmeisen. Über dem Kopf von Williams lag quer die eiserne Brechstange, die neben Williamsons Leiche gefunden worden war, und parallel zu ihr ein an einem Ende angespitzter Pflock. Am Haus der Marrs blieb der Karren eine Viertelstunde stehen, ebenso in der New Gravel Lane vor dem Haus der Williamsons „King’s Arms“. Es war eine einzigartige Inszenierung! Nach damaligen Schätzungen wohnten über zehntausend Menschen diesem Spektakel bei.
Die Prozession führte schließlich die Cannon Street hinauf bis zum damaligen Stadtrand, wo die Leiche von John Williams in eine Grube geworfen wurde; es war genehmigt worden, dass ein Wachmann den mitgeführten Pfahl durch das Herz des Leichnams mit dem blutverschmierten Hammer trieb – unter dem Gejohle der Zuschauer.
Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass John Williams nicht der gesuchte Mörder war. Dafür gibt es viele Indizien. So wollte ein Mann namens Trotter Williams beweiskräftig entlasten, aber er wurde niemals zur Sache befragt. Warum? Drei glaubhafte Zeugen gaben an, dass sie genau zu der Zeit, als wegen der Morde bei den Marrs Alarm geschlagen wurden, zwei Männer die Straße zum Ratcliffe Highway hinaufrennen sahen; einer schien lahm zu sein. Es war also davon auszugehen, dass es mindestens zwei Täter waren, und Williams hinkte nicht.
Die Friedensrichter versäumten, den im Marr-Haus gefundenen Zimmermannshammer genauer zu untersuchen; die eingestanzten Initialen hätten gefunden werden müssen, wodurch möglicherweise die Morde an den Williamsons verhindert werden können. „Sie schenkten dem in Marrs Räumlichkeiten gefundenen Stemmeisen“, so James und Critchley, „wenig Beachtung, obwohl sie die Suche nach seinem Besitzer ausschrieben und erkannt haben müssen, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von dem Mörder ins Geschäft gebracht worden war. Sie ließen den ‚Pear Tree‘ erst zehn Tage nach dem Tod ihres Hauptverdächtigen durchsuchen. Sie verschwendeten viel Zeit und Mühe auf die fruchtlosen Verhöre von Leuten, die ihnen aufgrund völlig unzureichender Verdachtsmomente vorgeführt wurden.“
Und es war davon auszugehen, dass Williams durch fremde Hand starb. Das Opfer war im Gefängnis zugänglich, gefesselt und hilflos, der Aufseher völlig unterbezahlt (eine Guinee pro Woche) und konnte bestochen werden. Und Bestechungsgelder waren üblich, dass sie fast als fester Bestandteil des Berufes betrachtet wurden. Es muss mindestens einen Mann gegeben haben, dessen Sicherheit von Williams’ Tod, und zwar seinem baldigen Tod, abhing. Auch für James und Critchley war John Williams niemals der gesuchte Mörder, sondern das achte Mordopfer.
Das Gefühl von Enttäuschung und Wut, das Williams‘ unvorschriftsmäßigem Ableben folgte, wurde am 18. Januar 1812 sogar im Unterhaus vom Premierminister Spencer Perceval zum Ausdruck gebracht, als er von „dem Ganoven Williams“ sprach, „der kürzlich die Nation um ihre gerechte Rache geprellt hat, indem er sich auf gewaltsame Weise der Strafe entzog, die ihn erwartete.“
Am 11. Mai 1812 empfing ein John Bellingham, der mit der Bearbeitung seiner Beschwerden unzufrieden war, den Premierminister Spencer Perceval in der Eingangshalle des Unterhauses mit einem geladenen Revolver und erschoss ihn. Aber das ist eine neue Geschichte …
Und dies noch: Eine Gruppe von Arbeitern entdeckte hundert Jahre später bei Ausschachtungen das von einem Pfahl durchbohrte Skelett von John Williams.
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