27. Jahrgang | Nummer 22 | 21. Oktober 2024

Ein vermeintlicher Spionagefall

von Dieter Naumann

Zwei ältere Herren kamen mit einem gemieteten Gefährt aus dem Inselinneren von Rügen nach Arkona und begannen hier mit dem Maßband die Höhe der verbliebenen Reste des slawischen Burgwalls, der sogenannten Jaromarsburg, zu messen und zu fotografieren. Dieses Verhalten erschien dem auf dem Leuchtturm („Schinkelturm“) amtierenden Wärter auffällig. Er unterhielt sich mit dem Kutscher der beiden Herren und erfuhr, dass beide Dänen seien und schon in Bobbin fotografische Aufnahmen gemacht hätten. Dass Dänen „an dem für unsere Marine wichtigen strategischen Punkte“ messen und fotografieren, wurde dem eifrigen Wärter immer verdächtiger. Seine Frage, worüber sich die beiden Herren unterhalten hätten, konnte der der dänischen Sprache nicht mächtige Kutscher nicht beantworten. Der Leuchtturmwärter schien völlig vergessen zu haben, dass jährlich hunderte Fremde Arkona besuchten, dabei auch den slawischen Burgwall fotografierten oder zeichneten. Dessen Ausmaße waren inzwischen in zahlreichen Büchern veröffentlicht und konnten jederzeit nachgelesen werden. Wie auch immer: Wenn er das Vaterland durch die beiden Herren in Gefahr sah, hätte er ihnen ihr gerade erst begonnenes Tun doch einfach verbieten können?! Das erschien dem – wie sich herausstellte – ehemaligen Gefängniswärter offenbar zu unsicher. „Das alte Blut regte sich in ihm“, schrieb die Stralsundische Zeitung, „er wollte Gefangene sehen“.

Der Zufall wollte es, dass gerade vier Marinesoldaten auf Arkona Flaggensignale übten. Sie rief der wackere Turmwächter herbei. Zwei von ihnen stellten sich mit gezogenen Gewehren vor den verdächtigen Personen auf, die beiden anderen, unbewaffnet, standen auf der entgegengesetzten Seite, wohl um eine mögliche Flucht zu verhindern. Die Dänen, beide der deutschen Sprache mächtig, wurden nun unter Bewachung zum Ortsvorsteher von Putgarten geführt, der ihnen erklärte, sie seien militärisch verhaftet und müssten dem Amtsvorsteher vorgeführt werden. Eine Kutsche war – „natürlich“ auf Kosten der beiden Dänen – bald beschafft und es ging unter Bewachung von zwei Mann nach Altenkirchen. Dem dort agierenden Amtsvorsteher wurden die von der dänischen Regierung in französischer Sprache ausgestellten Pässe der verdächtigen Personen vorgelegt. Der in die Jahre gekommene Amtsvorsteher mochte sich auf seine Französischkenntnisse nicht verlassen und wollte, obwohl er den Aussagen der beiden Dänen glaubte und auch die Echtheit der Pässe nicht anzweifelte, die „sehr bedenkliche Sache“ dennoch an das Landratsamt in Bergen melden. Als die beiden Dänen den Wunsch äußerten, sich sofort nach Bergen begeben zu dürfen, hatte der Amtsvorsteher auch dafür Verständnis, nicht aber der offenbar inzwischen herbeigerufene Gendarm. Der ordnete an, die beiden müssten zurück nach Arkona und dort weitere Entscheidungen abwarten. Die Pässe, der Bericht des Amtsvorstehers und ein Brief der beiden „Arrestanten“ gingen an das königliche Landratsamt.

Als die beiden Dänen zwei Tage später auf Arkona keine Nachricht erhielten, fragten sie telegrafisch beim Landratsamt an, ob sie sich an den finnischen Gesandten wenden dürften. Vom Landratsamt ging die Drahtnachricht ein, die Rückgabe der Pässe sei verfügt und ein Brief folge. Als dies nicht geschah, baten sie das Landratsamt um Übersendung der Pässe per Eilboten, worauf aber wiederum keine Antwort erfolgte. Erneut telegrafierten die beiden Dänen und erreichten schließlich, dass die Pässe doch noch per Eilbote eintrafen und ihnen außerdem aus Bergen die Abreise erlaubt wurde. Die Beiden bedankten sich für die „exakte und conciliante Erledigung“ der „widerwärtigen Vorkommnisse“ (Stralsundische Zeitung) durch das Landratsamt.

Bereits in einem kurzen Beitrag in der Stralsundischen Zeitung vom 27. September 1890 wurden die beiden Spionageverdächtigen als „harmlose dänische Alterthumsforscher“ identifiziert. Der ganze Vorfall wurde in diesem Artikel noch als harmloses „Kuriosum“ verniedlicht. In der Ausgabe vom 30. September 1890 musste die Zeitung jedoch kleinlaut das „Symptom einer recht häßlichen und unser nationales Selbstgefühl verletzenden Spionagefurcht“ konstatieren. Man habe oft genug über die „Spionageriecherei“ der Franzosen gespottet, um so beschämender seien nun zunehmende Fälle, bei denen Fremde mit nichtssagenden Verdachtsgründen in Verlegenheit gebracht würden. Diejenigen Personen, die in dem Drama zum Schaden der beiden Fremden eine leitende Rolle gespielt hätten, dürften „einer wenig angenehmen Richtigstellung ihres Verhaltens gewärtig sein“. Der die dreitägige Zwangslage verursachende naive Lampenwärter von Arkona äußerte verlegen, das Ganze sei nur passiert, weil die Marinesoldaten hier gewesen wären. „Wäre das nicht gewesen, so wäre es nicht geschehen.“ Dass er selbst die Soldaten übereifrig herbeigerufen hatte, schien er vergessen zu haben.

Die beiden aus Kopenhagen stammenden Dänen, der Architekt und Kunstarchäologe Professor Julius Bentley Løffler (1843 – 1904, irrtümlich/fälschlich auch I. L. und J. L. Löffler) und der Archäologe Dr. Karl Nikolaj Henry Petersen (1849 – 1896), ab 1892 Direktor der historischen Abteilung des Nationalmuseums in Kopenhagen, galten auch in deutschen Kreisen als angesehene und wohlbekannte Wissenschaftler. Løffler hatte schon vor Jahren Abhandlungen über die Klosterkirche zu Bergen und die Kirchen zu Altenkirchen und Schaprode geschrieben, die 1879 und 1881 in den „Baltischen Studien“ veröffentlicht wurden (Die Übersetzungen ins Deutsche aus „Aarbøger for nordisk Oldkyndighet og Historie“, 1873 und 1878, besorgte Regierungs-Rat a.D. G. von Rosen). Petersen fertigte verschiedene Abhandlungen für das „Jahrbuch für nordische Altertümer“ („Aarbog for nordisk Oldtidskundskab“) und beschäftigte sich mit den Ausführungen des dänischen Geschichtsschreibers des 12. Jahrhunderts, Saxo Grammaticus, über die Eroberung der Jaromarsburg. Beide wollten bei ihrer Rügenreise ihre bisherigen Forschungsergebnisse überprüfen und vervollkommnen. Mit einem dreitägigen Zwangsaufenthalt auf Arkona wegen Spionageverdachts hatten sie natürlich nicht gerechnet.