27. Jahrgang | Nummer 20 | 23. September 2024

Kaputtgespart

von Jürgen Leibiger

Laut Duden bedeutet das Verb kaputtsparen so viel wie „durch zu starke Einsparungen über Gebühr beeinträchtigen, beschädigen oder gänzlich ruinieren“. Ist der Einsturz der Dresdner Carola-Brücke dafür ein gutes Beispiel?

Eine große deutsche Zeitung titelte „Am Geld hat es in Dresden nicht gefehlt“. Aber warum war der Brückenzug, dessen Festigkeit schon lange als „nicht ausreichend“ deklariert war, dann nicht rechtzeitig saniert worden? Ein Bekannter witzelte, „man wird sagen: kein Wunder, die wurde ja in der DDR gebaut“, „Putin ist schuld“ oder „Terroranschlag von Islamisten“. Andere sahen in der Katastrophe eine Folge der Politik der Ampel-Regierung oder einer Fehlplanung des Dresdner Rathauses. Zwei Teile dieser Brücke waren dieses Jahr saniert worden, der eingestürzte Teil wäre nächstes Jahr dran gewesen. Falsche Reihenfolge?

Was immer in diesem konkreten Fall die Ursache des Unglücks war, es ist Symptom einer auf allen Ebenen des Landes fehlgeleiteten Haushaltspolitik und eines Systemversagens. Nicht, dass andere Systeme nicht auch versagen und Katastrophen produzieren würden, aber es gibt eben auch spezifische Ursachen im existierenden politischen und ökonomischen System. Es wird zwar viel über Nachhaltigkeit philosophiert und in Regierungsprogrammen geschrieben, und es gibt sogar Perspektivüberlegungen, die mehrere Jahrzehnte im Blick haben, aber angesichts von politischen Wahlzyklen und der Bilanzzeiträume von Unternehmen ist den Entscheidern letztlich doch das Hemd näher als der Rock; langfristig notwendige Ersatzinvestitionen werden zugunsten billiger Showeffekte kurz vor den Wahlterminen hinausgeschoben.

Der klimagerechte Umbau des Energiesystems und der Klimaschutz liegen – wie selbst Gerichte feststellen mussten – hinter den Erfordernissen und Plänen zurück. Die Deutsche Bahn muss besonders beanspruchte und marode Abschnitte das Gleissystem im Hauruckverfahren sanieren, während andere Stecken liegenbleiben. Der Zustand der Straßen ist teilweise katastrophal, an manchen Stellen drohen die Abwassersysteme zu zerfallen, Schulgebäude und ihre technische Ausstattung sind nicht mehr zeitgemäß und müssten dringend erneuert werden. Das Gleiche gilt für viele Verwaltungsgebäude. Die Feuerwehren hinken dem Stand der Technik hinterher. Seit Jahren attestieren die kommunalen Spitzenverbände den Städten und Gemeinden einen immer größeren Investitionsrückstand; er stieg zuletzt auf 186 Milliarden Euro. Besonders große ist er bei Schulen und Straßen. Von den Brücken auf Fernstraßen haben über 5 Prozent das Prädikat „nicht ausreichend“ und „ungenügend“. Das klingt, als sei es nicht viel, aber das sind bei 40 Tausend Brücken insgesamt immerhin 2000, denen vielleicht ein ähnliches Schicksal wie der Dresdner Carola-brücke droht. Der Bundesverkehrsminister verspricht, jährlich 400 Stück zu sanieren. Ich weiß nicht, wann die Brücken dran sind, die ich in Dresden regelmäßig queren muss, und es kann einem da schon mulmig werden.

Deutschland liegt bei den öffentlichen Investitionen deutlich hinter anderen europäischen Ländern zurück. Während im EU-Durchschnitt ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt knapp 3,5 Prozent beträgt, kommt Deutschland nur auf 2,7 Prozent. Speziell bei Infrastrukturausgaben gehört es zu den Schlusslichtern. Der Modernitätsgrad, der angibt, wie hoch die Neuinvestitionen im Verhältnis zum Gesamtbestand des öffentlichen Kapitalstocks sind, ist seit dreißig Jahren schneller als in vergleichbaren Ländern gesunken. „Verzehrt Deutschland seinen staatlichen Kapitalstock?“ wurde in einem Fachartikel gefragt. Angesichts eines schrumpfenden Nettoanlagevermögens des Staates in vielen Jahren der letzten drei Dekaden eine berechtigte Frage.

Obwohl die öffentlichen Investitionen in absoluten Zahlen zuletzt wieder gestiegen sind, bleiben sie offensichtlich hinter den Erfordernissen zurück. Ein guter Teil des nominellen Investitionszuwachses wird von steigenden Baupreisen aufgefressen. Der Erhalt und die Erneuerung des Straßennetzes halten nicht mit dem explodierenden Verkehrsaufkommen und der transportierten Tonnage der vergangenen Jahrzehnte Schritt. Wenn die Baumaßnahmen an der Infrastruktur lange Zeit vernachlässigt werden, haben die Baufirmen auch keine Veranlassung, die zumal im Brückenbau stark spezialisierten technischen und personellen Kapazitäten vorzuhalten. Wenn diese dann von jetzt auf schnell nachgefragt werden, gibt es natürlich auch politisch verschuldete Engpässe.

Öffentliche Investitionen stehen in einem Konkurrenzverhältnis zu anderen Aufgaben von Bund, Ländern und Kommunen. Vor allem den Städten und Gemeinden wurden in den vergangenen Jahren vom Gesetzgeber soziale Aufgaben aufgebürdet, ohne für eine angemessene Finanzausstattung zu sorgen. Die Latte der Klimaschutzauflagen und Baustandards wurde höher gelegt, die finanziellen Mittel für deren Erfüllung sind aber oft gar nicht vorhanden. So wird die Erfüllung der notwendigen öffentlichen Aufgaben zeitlich in die Länge gezogen. Steuererhöhungen und öffentliche Kreditaufnahme sind tabu; und es kann dann schon mal vorkommen, dass eine Brückensanierung nicht mehr rechtzeitig erfolgt.

Apropos Kreditfinanzierung öffentlicher Haushalte. Die Stadtoberen von Dresden waren seinerzeit stolz wie Bolle, sich mittels des Verkaufs städtischer Wohnungsbestände ihrer Schulden entledigt zu haben. Inzwischen hat man wohl eingesehen, was für ein Schildbürgerstreich das war und eine städtische Wohnungsbaugesellschaft neu gegründet. In Sachsen gilt eine besonders strenge verfassungsrechtliche Begrenzung der öffentlichen Verschuldung und für die Tilgung der Neuverschuldung. In Corona-Zeiten hat sich die Regierung des Freistaats ein extrem enges Korsett angelegt. Während sich die Mehrzahl der Länder dafür zwischen 20 und 50 Jahren Zeit lässt, will die Regierung des Freistaats das in nur sechs Jahren bewerkstelligen. Der jährliche Tilgungsbetrag liegt bei einer Milliarde Euro. Die fürs kommende Jahr geplante Sanierung des jetzt eingestürzten Brückenzuges in Dresden sollte 8,4 Millionen Euro kosten.

Frage an die rechnende Leserschaft: Wie viele solcher Brücken ließen sich sanieren, wenn – unter Berücksichtigung der Mehrausgaben für Zinsen von jährlich 3 Prozent – die sächsische Tilgungsfrist auf den deutschen Durchschnitt von 24 Jahren verlängert würde?

Am Rande sei erwähnt, dass die Geldvermögen der Deutschen allein im ersten Quartal dieses Jahres um 216 Milliarden gestiegen sind. Der weit überwiegende Teil davon schlug sich bei den obersten zehn Prozent der Bevölkerung nieder. Was könnte nicht alles saniert werden, würde ein Hundertstel mehr von diesem Zuwachs in öffentliche Kassen geleitet.

Das wirtschaftsnahe Kölner Institut der deutschen Wirtschaft und das gewerkschaftlich orientierte Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung haben im Mai den Vorschlag unterbreitet, ein 600-Milliarden-Sondervermögen für Investitionen in die Infrastruktur im Verlauf der nächsten zehn Jahre zu schaffen. Ein solches Sondervermögen umgeht die Schuldenbremse des Grundgesetzes.

Alternativ könnte die ursprünglich im Grundgesetz verankerte „Goldene Regel“ reaktiviert werden, wonach öffentliche Kredite in Höhe der Investitionen zulässig sind. Wenn man bedenkt, in welchem Tempo das 100-Milliarden-Sondervermögen für das Verteidigungsresort durch den Bundestag gepeitscht wurde, könnte der Dresdner Brückensturz ja vielleicht Anlass sein, mit ähnlicher Schnelligkeit zu agieren. Aber über irgendwie nachdenkliche Reaktionen aus Berlin oder der sächsischen Staatskanzlei war nichts zu vernehmen.

Das Kaputtsparen geht weiter.