27. Jahrgang | Nummer 18 | 26. August 2024

Pobedonoszew – Russlands Graue Eminenz

von Detlef Jena

Auf der Karelischen Landenge liegt nordwestlich von Sankt Petersburg der kleine Ort Repino. Benannt nach dem Maler Ilja Repin (1844-1930). Nahe dem ukrainischen Charkow geboren, gilt Repin als Meister der russischen realistischen Malkunst. Eines seiner bekanntesten Bilder zeigt jene deftige Szene, in der die Saporoger Kosaken einen ebenso legendären wie unflätigen Brief an den türkischen Sultan geschrieben haben. Die Kosaken waren eine der wenigen Volksgruppen, die sich in der Geschichte der Ukraine für ihre selbstbewusste, militärdemokratische Unabhängigkeit streitbar eingesetzt haben und letztlich doch den sie umgebenden Großreichen unterlagen.

Repin hinterließ zahlreiche Monumentalgemälde zu unterschiedlichen historischen Sujets. Dazu gehört das Bild über die Festsitzung des russischen Staatsrats im Jahre 1901, das bis zum Jahre 1903 entstand. Alles was in Russlands Administration Rang und Namen hatte, sonnt sich im festlichen Rund. Darin, fast unauffällig und blass, ein fahles Gesicht. Eine von Repin speziell angefertigte Porträtskizze ist deutlicher: Im verschwommenen Antlitz ein starrer Blick, die Lippen gepresst und schlanke, ineinander geschobene, knochengleiche Finger. Das war Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew (1827-1907), Oberprokurator des Heiligsten Dirigierenden Synods der russisch-orthodoxen Kirche. Allgemein als die „Graue Eminenz“ unter der Herrschaft des Zaren Nikolaus II. betrachtet, hymnisch verehrt, gefürchtet und gehasst. Seine Karriere war bemerkenswert.

Er wurde vom Vater, der an der Moskauer Universität lehrte, früh an westeuropäische Litera­tur und Philo­sophie herangeführt. Von 1841 bis 1845 war er Schüler der Kaiserlichen Rechtsschule, deren Bildungs­programm sich sowohl am klassischen römischen Recht als auch an modernen europäischen Rechtslehren orien­tierte. Konstantin lernte eisern, war überdurchschnittlich intelligent und wusste sich darzustellen. Eine Beamtenkarriere stand außer Frage, obwohl er ein junger Rebell war.

In zahl­reichen Aufsätzen kritisierte Pobedonoszew seit Ende der 50er Jahre die russischen Rechtsverhältnisse. Als Mitglied verschiede­ner Kommis­sionen war er maßgeblich an der Ausarbeitung der Justizreform in den Jahren 1861 bis 1863 beteiligt. Ein ganz wesentlicher Bereich bei der Aufhebung der Leibeigenschaft, die das Land in die Moderne führen sollte.

Im Jahre 1861 berief ihn Reformzar Alexander II. zum Rechtserzieher seiner beiden Söhne Nikolaus und Alexander. Diese Auszeichnung war verführerisch. Er folgte dem Ruf eines Zaren, der eine Reform der Gesellschaft anstrebte, und begab sich gleichzeitig in die Hände der Dynastie Romanow, deren Macht in der orthodoxen Autokratie wurzelte und verharrte. Welchen Einfluss würde er als Jurist in der Politik real besitzen? Welche staatsrechtliche Entwicklung würde er selbst einschlagen? Pobedonoszew ließ keine Gelegenheit aus, sein eigenes Profil zu bestimmen und zu schärfen.

Von 1868 bis 1880 arbeitete er an seinem juristi­schen Hauptwerk, einem dreibän­digen „Kurs des Zivilrechts“, das über das 19. Jahrhundert hinaus ein Standardwerk der russischen Rechtsgeschichte geworden ist. Darüber hinaus publizierte er viele Einzelarbeiten und Übersetzun­gen von Arbeiten westlicher Autoren. Er betätigte sich als Herausgeber rechts­historischer Dokumente. Mitte der 60er Jahre war er bereits zu einer Autori­tät in der Moskauer und Petersburger Gesellschaft geworden und verkehrte in den besten Salons der Hauptstadt, so etwa bei der aus Württemberg stammenden Großfür­stin Elena Pawlowna, die zu den wichtigsten Initiatoren der zaristischen Reformpolitik zählte.

1868 ernannte ihn Alexander II. zum Senator, vier Jahre später zum Mitglied des Reichsrates. Die politische Karriere Pobedonoszews, die ihn zur Leitfigur der Regierungszeit Alex­anders III. werden ließ, begann mit seiner Ernennung zum Oberprokurator des Heiligsten Synods im Jahr 1880.

Die endgültige Entscheidung für seine Hinwendung zur extremsten Variante der Orthodoxie fiel mit der Ermordung Zar Alexanders II. im März 1881. Noch nie war ein russischer Zar – im Gegensatz zu den zahlreichen Palastrevolten mit tödlichem Ausgang – durch eine sozialrevolutionäre Organisation aus dem Volk umgebracht worden. Die Romanows sahen ihre Herrschaft in äußerster Gefahr und Pobedonoszew war bereit, ihren Machtanspruch mit allen ihm gebotenen Mitteln zu verteidigen.

Bereits in den ersten Briefen an den neuen Zaren un­mittelbar nach der Ermordung Alexanders II. machte er seinen politischen Einfluss gel­tend. Die Regierungserklärung Alexanders III. war weitgehend sein Werk. Er verwarf jeden Gedanken an eine Verfassung. Selbst­herrschaft und Orthodoxie benötigten einen starken Staat, ein untertäniges Volk und keine konstitutionellen Experimen­te.

Diese theologisch und autokratisch begründete Härte beruhte auf einer komplizierten Wandlung Pobedonoszews: Die Schüsse und Bomben der Sozialrevolutionäre, die seit 1865 mit sieben Anschlägen das Leben des Zaren bedrohten und 1881 beendeten, prägten den klugen Juristen, der zunächst westliche Ideen aufgeschlossen durchdacht hatte. Doch ausgerechnet das intensive Studium westeuropäi­scher Gesellschafts- und Rechtsmodelle führte ihn letztlich zu der Überzeugung, dass Russland sich von „Liberalismus“ und „Parlamenta­rismus“ nicht blenden lassen dürfe. Die Autokratie sei das alleinige und ewige Herr­schaftsprinzip in Russland. Die Gesetze zur Beschränkung der Öffentlichkeit bei Gerichtsverfahren (1887), zur Einführung des obrigkeitlichen Instituts der Landsamts­leute (1889) und zur Unterordnung der lokalen Selbstverwal­tungsorgane unter die Gouverneursgewalt (1890), fanden aus­drücklich Pobedonoszews Zustimmung.

Die zweite und wohl demonstrativste Säule seines konservativen Weltbildes war eine strenge Gläubigkeit. Eine religiöse Vielfalt, wie sie in Westeuropa und den USA herrschte, dürfe in Russland niemals zugelassen werden. Nicht ohne Genugtuung berichtete er in schlimmsten Farben von der Tätigkeit amerika­nischer Sekten. Auf die re­striktive Kirchenpolitik des Ober­prokurators Pobedonoszew in den baltischen Provinzen, wonach ab 1885 Kinder aus evange­lisch-lutherischen und russisch-orthodoxen Mischehen zwangsweise zur orthodoxen Gemeinde gezählt wurden, reagierte die internatio­nale „Evangelische Allianz“ 1886 und 1887 mit Offenen Briefen an den Zaren und Pobedonoszew, die dieser Anfang 1888 zurückwies.

Nach dem Tode Alexanders III. und der Thronbesteigung Nikolais II., des letzten russischen Zaren, dessen juristischer Lehrer er ab 1885 gewesen war, konnte Pobedonoszew seinen politischen Einfluss erneut ausweiten. Die von ihm entwor­fene Thronrede des jungen Zaren vom 17. Januar 1895 warnte eindringlich vor den „sinnlosen Träumen“ einer Einbeziehung breite­rer Volkschichten in die politische Administration. Ein Jahr später veröffentlichte Pobedonoszew die „Moskauer Samm­lung“, sein politisch-kulturphilosophi­sches Credo, das zu einem Manifest des russischen antiwest­lichen Nationalkonservatismus wurde, der die Zeiten überdauert hat.

Doch die eigentliche Domäne Pobedonoszews war ganz logisch die Bildungspolitik. Alphabetisierung und die Festigung der orthodoxen Glaubensgemein­schaft in allen Altersstufen und Nationalitäten des Russischen Reichs, vom Baltikum bis nach Mittelasien und dem Fernen Osten, mündeten in autokratisch verordnete Russifizierungskampagnen. Doch gerade darin lag eine Sprengkraft, die 1905 mit zur ersten russischen Revolution führte und das von Pobedonoszew über 25 Jahre mühsam errichtete Dogma der unzerstörbaren Einheit von „Autokratie, Orthodoxie und wahrem Volkstum“ zum Einsturz brachte. War das tatsächlich so?

Als alter, gebrochener und misanthropi­scher Mann verließ er das öffentliche Leben. 1907 starb er und konnte sich nur noch daran erfreuen, dass man in Deutschland seine wichtigsten Schriften bereitwillig veröffentlicht hatte. Welche Ironie der Geschichte: Pobedonoszew hatte in all seiner Klugheit das Wichtigste der eigenen Lehre gar nicht verstanden: Ob Reform, Stillstand, Opposition oder Revolution – jede gesellschaftliche Bewegung und jeder Wandel vollzieht sich in Russland seit dem Mittelalter in Politik, Wirtschaft, Sozialstruktur, Kultur und Religion unter den Markenzeichen der Autokratie und unter der Überschrift: Moskau ist das dritte Rom, ein viertes wird es nicht geben. Das ist der große Unterschied zum pluralen westlichen Europa. Und doch sind beide kulturellen Regionen aufeinander angewiesen.