Zu den Verdiensten des letzten Chefredakteurs und Herausgebers der Weltbühne, Helmut Reinhardt, der im vorigen Blättchen gewürdigt wurde, gehört auch folgende kleine Geschichte: Wir kannten uns von der Sektion Journalistik der Leipziger Karl-Marx-Universität. Später, als ich Redakteur bei der Studentenzeitung FORUM war und er für die Weltbühne arbeitete; nahm er ab und an einen Artikel von mir in sein Blatt. Das endete 1977, weil ich dann für das Ministerium für Staatssicherheit tätig wurde, als Auswerter ihrer Spionage-Hauptabteilung Aufklärung (HVA).
Mitte der 1980er Jahre nahm ich jedoch wieder den Kontakt zu Helmut Reinhardt auf, und zwar aus folgendem Grund: Die ziemlich eigene Art von „Journalismus“, die ich bei der HVA betrieb, hatte den Vorteil, dass ich nicht nur über all jene Informationen verfügte, die auch Journalisten hatten, sondern über weitaus mehr. Das Aufkommen von hunderten „Quellen“ in aller Welt, ihre tausenden Berichte, die sie alljährlich an die Zentrale in der Berliner Normannenstraße absetzten, waren ein gewaltiger Recherche-Pool, den der Schreiber nur noch anzuzapfen brauchte, um daraus durchaus sensationelle News und Hintergrundmaterialien zu machen. Hinzu kam, dass wir keine Weisungen von oben zu beachten hatten, sondern allein die Fakten zu notieren und zu interpretieren. Bis fast zum Schluss, in den Sommer 1989 hinein, schrieben wir, was uns die Informanten aus dem Operationsgebiet berichteten und nahmen dabei kein Blatt vor den Mund.
Zugleich konnte ich an den in der DDR vertriebenen journalistischen Produkten sehen, wie wenig sie vom tatsächlichen Geschehen vermittelten, geschweige denn, es unabhängig interpretierten. Es war außerordentlich schmerzlich, auf die volle Ausschöpfung des mir zugänglichen Materials verzichten zu müssen.
Da Helmut Reinhardt inzwischen stellvertretender Chefredakteur der wegen ihrer Missachtung der Parteisprache und sogar mancher Parteierwartungen in der DDR ziemlich angesehenen Weltbühne war, versuchte ich, ihm einen eigenen Bonner „Korrespondenten“ schmackhaft zu machen. Dies gelang, da mein Gesprächspartner ein echter Journalist war und die Aussicht auf eine eigenständige bundesdeutsche Ansicht in seinem Blatt ihn durchaus reizte. Er wusste wohl, dass ich irgendwo arbeitete, wo allerhand Informationen zusammenliefen, kannte aber nicht die ganze Wahrheit; davor wäre er möglicherweise zurückgeschreckt. Ich aber konnte ihn nicht völlig einweihen, schon des Selbstschutzes wegen, denn was ich da tat, lag außerhalb aller konspirativen Regeln.
Jedenfalls erschien im Frühjahr 1986 ein erster Beitrag aus der Feder von Ulrike Forster (Bonn), dem in unregelmäßigen Abständen weitere folgten. Ich achtete streng darauf, nur offizielles Material zu verarbeiten, um nicht ins Blickfeld diverser Abwehr-Diensteinheiten des MfS zu geraten, und das schien zu gelingen. Obwohl die Korrespondenzen der gut informierten Dame aus Bonn auch in der HVA verfolgt und mitunter sogar in den nicht mit politischer Aufklärung befassten Abteilungen für die sogenannten Polit-Informationen genutzt wurden, blieb mein Geheimnis bis zuletzt gewahrt.
Und doch war auch dies keine Freude. Von den von mir verfassten „Korrespondenzen“ ist wohl jede dritte nicht erschienen. Immer wieder beteuerte Helmut Reinhardt, dass es nicht an ihm liege, aber sein Chef und das „große Haus“ ließen es doch nicht zu, über die Bonner Dinge so oft und so unbefangen zu schreiben. Auch sei schon mitunter angefragt worden, wer denn diese Ulrike Forster wäre und ob sie als zuverlässig einzuschätzen sei.
1987, als Honecker in Bonn den roten Teppich betrat, wurde es noch schlimmer. Das ZK der SED mochte gar nichts in seinem Machtbereich über die BRD gedruckt sehen, was nicht völlig der eigenen Kontrolle unterlag. Auch die Weltbühne solle sich gefälligst an das halten, was in den wöchentlichen Argumentationen verkündet werde. So nahmen denn die Wünsche an die Bonner Korrespondentin zu, die der DDR genehmen Themen aufzugreifen, eine bestimmte Sprachregelung einzuhalten und nicht in erster Linie darüber zu berichten, was in Bonn an Interessantem geschah, sondern was die DDR-Führung für wichtig hielt. Differenzierte bundesdeutsche Sichten auf die damals umfangreich diskutierte Mittelstreckenraketen-Problematik waren ebenso wenig für die Öffentlichkeit bestimmt wie die ungeschminkte Darstellung innerparteilicher Querelen in den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP. Über Tiefflüge in der Bundesrepublik durfte nicht berichtet werden, weil ja über der DDR ähnliche Manöver stattfanden. Und Genscher war zwar nicht gerade zu tadeln, aber auch nicht über den grünen Klee zu loben – und wenn U. F. schon über ihn schrieb, dann musste zumindest ähnlich anerkennend auch DDR-Außenminister Oskar Fischer genannt werden. Das aber mochte ich meiner Bonner Korrespondentin nicht antun. Zwar schrieb ich einige wenige dieser „Auftragswerke“, aber unter einem anderen Pseudonym.
Auch im MfS erwies sich die vermeintliche Idylle ungesteuerten Wirkens im Sicherheitsapparat mehr und mehr als fromme Illusion. Sie zerplatzte vollends im Sommer und Frühherbst 1989, als nun auch die Geheimdienst-Informationen der Zensur unterlagen. Die Analysen des Wendejahres, aus denen ungeschminkt die sich verschärfende Situation in der DDR hervorging, erreichten in dieser Form nicht mehr die Empfänger. Ihre Aussagen wurden expressis verbis immer wieder als solche „verleumderischer imperialistischer Kräfte“ charakterisiert und damit faktisch entwertet. Denn Verleumdungen, so lautete der erwünschte Schluss, haben nichts mit der Wahrheit zu tun; mithin gehe aus der Darstellung nur die Verlogenheit des „ideologischen Feindes“ hervor, dem aber bedauerlicherweise viele DDR-Bürger ihr Ohr liehen.
Ulrike Forsters Zeit näherte sich mit dem Mauerfall ihrem Ende; da sie nun bald kein Alleinstellungsmerkmal der Weltbühne mehr war. Ihre letzte „Korrespondenz“ erschien am 19. Dezember 1989, dem Tag des Treffens Helmut Kohls mit Hans Modrow in Dresden; sie berichtete von den Bonner Vorbereitungen auf das Ereignis. Danach beendete sie ihre Tätigkeit wie auch ich die meine beim MfS.
In schweren journalistischen Zeiten gereicht dieser Vorgang der Weltbühne zur Ehre, denn, wie Reinhardt schrieb, „die Akteure hatten manchmal ein bisschen mehr Spielraum, und man ließ sie gewähren.“ Das war damals schon allerhand!
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