27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Ossietzky und die Weltbühne

von Friedrich Rhoda, zz. Salzburg

Heute, bei Ausgang des Jahrhunderts zweier Weltkriege, zweifelt – hoffentlich – niemand mehr daran, dass der Abbau der Arsenale, wenn er gelingen soll, begleitet sein muss von einer weltweiten Wandlung der geistigen Atmosphäre: ‚Aber die Vernunft soll unsere Lehrmeisterin sein, nicht die Katastrophe‘, schrieb Ossietzky im Jahre 1918, und er fügte hinzu: Friedenserziehung, Erziehung zur Friedensgesinnung bedeute Arbeit an Generationen.“
Der Verlag der Weltbühne Berlin hatte 1989, zum 100. Geburtstag Carl von Ossietzkys, einen Band mit dem Titel: „Nachdenken über Ossietzky“ herausgegeben. Achtundvierzig Autoren – Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, Schriftsteller, Publizisten und Bildende Künstler – waren der Einladung der Weltbühne gefolgt und hatten ihren ganz persönlichen Beitrag geleistet darzutun, „was Ossietzky ihnen heute sagt“. Darunter so bekannte Namen wie Manfred Kossok, Fritz Klein, Wolfgang Ruge, Werner Bramke, Kurt Pätzold, Jürgen Kuczynski.

Herausgeber der beeindruckenden Sammlung von Texten und Graphiken war Helmut Reinhardt. Seinerseits Jahrgang 1947, hatte er in Leipzig Journalistik studiert, zu einem Thema der Außen- und Entspannungspolitik promoviert, und war nach einigen Jahren in der Pressestelle des Außenministeriums der DDR als Redakteur zur Weltbühne gekommen. Ende der 1980er Jahre war er dort stellvertretender Chefredakteur. Erscheinungsjahr des Buches war 1989, der ausgewiesene Redaktionsschluss aber bereits der 1 Oktober 1988. Der Band war nicht nach der „Wende“ erschienen, sondern gehörte zu deren geistiger Vorbereitung.

Das obige Zitat stammt aus dem Vorwort von Reinhardt. Weiter schrieb er: „Der 100. Geburtstag ist ein guter Anlass, weiter nachzudenken über Ossietzky; die Gründe liegen tiefer, die Fragen kommen aus der Zeit, in die das Jubiläum fällt.“

Von Dezember 1989 bis zu ihrem Ende war Helmut Reinhardt dann der von den Mitarbeitern gewählte Chefredakteur und der letzte Herausgeber der Weltbühne. Bernd F. Lunkewitz, ein früherer Westlinker, der durch Immobiliengeschäfte reich geworden war, hatte die Zeitschrift wie den renommierten Aufbau-Verlag gekauft. Die Berliner Zeitung meinte 2005 in einem Rückblick ironisch, wohl in der Hoffnung, dem Aufbau-Verlag „ein schmückendes publizistisches Pendant zur Seite zu stellen“. Die währte jedoch nicht lange. Ein in den USA lebender Erbe des Zeitschriftengründers Siegfried Jacobsohn beanspruchte den Titel, und Lunkewitz brach den darüber geführten Rechtsstreit schließlich ab. Er ließ die Weltbühne im Juli 1993 einstellen. Reinhardt und die Redaktion schrieben zum Abschied: „Das Ensemble der Weltbühne steht fassungslos an der Rampe, zieht den Hut, verbeugt sich vor dem treuen Publikum und lässt erklären: Zu diesem bösen Spiel fällt uns nichts mehr ein!“

In einer öffentlichen Diskussionsrunde zum Thema: „Zeitschriften in der DDR“ im Oktober 1998 sagte Helmut Reinhardt zu den Eigenheiten der Weltbühne, vielleicht habe „der Name der Zeitschrift Autoren und Redakteure gelegentlich couragierter handeln lassen. Sie hat eine spezifische journalistische Tradition weitergeführt, die in anderen Zeitschriften so wohl nicht mehr zu finden war. Die Akteure hatten manchmal ein bisschen mehr Spielraum, und man ließ sie gewähren […]. Zudem galt die Zeitschrift auch immer ein bisschen als zugelassene Spielwiese der Intellektuellen.“

Am Ende kam Reinhardt auch hier wieder auf Ossietzky zurück. Der habe „mal gesagt: Die beste Literatur entsteht bei verhängten Fenstern und Kerzenschein. Es gab zwischen den DDR-Zeitschriften und ihren Lesern einen gemeinsamen Zeichenvorrat, gemeinsame Fragen, ein ganz intimes Verhältnis. Die Leser haben gefordert, über bestimmte Dinge, die öffentlich nicht verhandelt wurden, auf eine intelligente Weise doch Auskunft zu bekommen. Das ist das Beste, was Journalisten passieren kann, dass an sie Forderungen und Fragen gestellt werden. Und wenn plötzlich alles nackt herumläuft, dann ist der Reiz weg.“ Von hier aus kann man auch neu über das Verhältnis der Ostdeutschen zum heutigen Pressewesen nachdenken.

Wie wir erfahren haben, ist Helmut Reinhardt im Juni 2024 verstorben.

 

Zum Weiterlesen: Simone Barck/ Martina Langermann/ Siegfried Lokatis (Hrsg.): Zwischen „Mosaik“ und „Einheit“. Zeitschriften in der DDR, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.