27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Unterwegs in Usbekistan – lückenhafte Depeschen*

von Alfons Markuske, notiert in Buchara

Die Lauthoheit am Himmel über der Altstadt von Buchara gehört eindeutig den zahllosen indischen Staren, die den ganzen Tag über lauthals krakelen und sich an diesem Ort spürbar wohlfühlen.

Am Rande der Altstadt erhebt sich die ebenso riesige wie trutzige Zitadelle der früheren Emire von Buchara, die etwa acht Hektar maß und deren restaurierte Außenmauern etwa 25 Meter hoch sind. Bei der Schlacht um Buchara, die Verbände der örtlichen Kommunisten und entsandte Unterstützungstruppen der Sowjetmacht gegen die Streitkräfte des letzten Emirs im Jahre 1920 gewannen, wurde die Festung durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss weitgehend zerstört. So erzählt Akmal, unser einheimischer Reiseleiter. Einige wenige Teile, so das wuchtige, von zwei Türmen eingerahmte Eingangstor zu diesem Komplex, seien nach Erringung der usbekischen Unabhängigkeit wiedererrichtet worden. Von den Zinnen der Zitadelle entbietet sich ein beeindruckender Panoramablick auf die Altstadt, die als eine Perle des Orients zu apostrophieren nach wie vor keine Übertreibung ist.

Von alters her trug diese Stadt den Beinamen „Die Edle“. Heute ist das historische Zentrum vor allem von Heerscharen von ausländischen Besuchern aus vieler Herren Länder bevölkert. Entsprechend ist das Sprachgewirr auf Plätzen und Straßen, in den drei überdachten, ganz auf die Touristen ausgerichteten Basaren mit ihren Myriaden an Händlern. Deren bunten Angeboten an Teppichen, Kleidern, Burnussen, Kaftanen, Messern, Scheren, Schmuck, orientalisch-farbigem Geschirr sowie Wandtellern und … und … und … begegnen wir vielerorts.

Ein kleiner Laden im Herzen der Altstadt verkauft Stab- und Handpuppen in Gestalt ausdrucksstarker orientalischer Frauen- und Männertypen, hat aber auch einen hübschen Don Quichote im Angebot. Darüber hinaus wird über die Herstellung der Puppen informiert, deren Köpfe heute aus Pappmaché gefertigt werden. Das Ganze hat in dieser Gegend eine sehr lange Tradition. Schautafeln informieren darüber, dass bei archäologischen Ausgrabungen Puppenköpfe aus Terrakotta gefunden wurden.

In einem weiteren Geschäft ganz in der Nähe werden Pelzmäntel feilgeboten – Persianer. Das Fell mit seiner typischen Kräuselung stammt von neugeborenen, maximal wenige Tage alten Karakulschafen. Mitten unter diesen auch ein Mantel mit völlig glatter, seidig-feiner Oberfläche. Die Haptik ist äußerst angenehm. Doch fragen hätten wir besser nicht sollen: Dieser Pelz stammt von ungeborenen Karakullämmern. Das Material sei besonders teuer, erläutert Akmal, denn schließlich müsse man dafür auch die Muttertiere …

In einem der Basare erfahren wir Details über die diversen Arten von traditionellen Teppichen und Läufern sowie deren Handanfertigung. Der „Webstuhl“ besteht aus nicht mehr als einem rechteckigen Rahmen aus Metallrohr von etwas mehr als der Größe des künftigen Produktes. Der Rest ist Handarbeit, oft von vielmonatiger Dauer. Ausgangsmaterialien sind zum Beispiel Wolle von Kamelen (grob), speziell vom Hals von Kamelen (feiner) und Seide (extrem fein). Die Qualität des Produktes bemisst sich vor allem an der Anzahl von Knoten pro Quadratzentimeter. Ein besonders hochwertiges Stück aus Seide, das wir in Augenschein nehmen, kommt auf über 800 Knoten, die man den prachtvollen orientalischen Ornamenten natürlich im Einzelnen nicht ansieht. Das hat dann aber auch seinen Preis: 7500 Euro. Obwohl der bezaubernde Miniläufer nicht größer ist als ein DIN-A-Blatt.

Den Mittelpunkt des Labi Hauz-Komplexes, eines der wichtigsten Handelsplätze des historischen Buchara, bildet ein teichgroßes, zwölf Meter tiefes Wasserbecken, in dem sich die Fassaden der monumentalen Gebäude ringsum spiegeln – Karawansereien und Medresen. In der Moschee einer der letzteren richteten die Bolschewiki weiland das erste Kino Zentralasiens ein. Hatten muslimische Männer der strengen religiösen Regel wegen, dass sich Frauen nur komplett verhüllt (Burka) öffentlich zeigen durften, bis dato in ihrem gesamten Leben kaum mehr als drei Frauen (Mutter, Gattin und gegebenenfalls Schwester) von Angesicht zu Angesicht gesehen, so müssen damals Bilder auf der Leinwand, die etwa städtisches Leben in nicht-muslimischen Teilen Sowjetrusslands zeigten, ein formidabler Schock gewesen sein. Quasi eine Obszönität.

Dicht neben dem Wasserbecken – in Bronze, Überlebensgröße und auf einem Esel reitend – Hodscha Nasreddin. Der gewitzte Schalk, der sich über Konventionen und andere Regeln, ja selbst Gesetze hinwegsetzte und der Obrigkeit ein ums andere Mal eine Nase drehte, der aber auch dem einfachen Volk so manche Lehre erteilte, ist uns in Jugendtagen in der DDR als der Till Eulenspiegel des Orients nahegebracht worden. Dabei würde wohl eher andersherum ein Schuh daraus. Zwar sind beide Gestalten nicht historisch verbürgt, aber erste Nasreddin-Geschichten datieren bereits auf das 13. Jahrhundert. Eulenspiel-Überlieferungen hingegen setzen ein Jahrhundert später ein.

Bisweilen scheint auch Akmal in Nasreddinscher Tradition zu kommunizieren. So erzählt er uns keck folgendes über Fayzulla Khodjaev, eine wichtige Persönlichkeit der jüngeren usbekischen Geschichte, der aus schwer reichem Elternhaus stammte. Ein beeindruckendes Wohnensemble der Familie mit Männer-, Geschäfts- sowie separatem Frauenhaus und großem Garten besichtigen wir in Buchara. Ungeachtet seiner Herkunft konvertierte Khodjaev zu den Bolschewiki und stieg bis zum Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik auf, bevor er 1938 im Zuge des stalinschen Terrors als „rechter Trotzkist“ verurteilt und umgebracht wurde. Und nun der Knüller: Khodjaev sei persönlich bekannt gewesen mit Marx und Engels. Die habe er während seiner Ausbildung in Europa kennengelernt.

Wikipedia allerdings behauptet, dass Khodjaev in seinem Leben nur bis Moskau gekommen sei. Doch der Online-Enzyklopädie sind ja auch schon Fehler unterlaufen. Unstrittig allerdings ist, wann Khodjaev zur Welt kam – 1896. Da weilte Marx bereits 13 Jahre nicht mehr auf derselben, und Engels war ebenfalls bereits ein Jahr verblichen …

Vor der Abreise aus Buchara pausieren wir zwecks Mittagessen in einem nigelnagelneuen sogenannten Hochzeitspalast. Der wird schon wegen seiner äußeren Abmessungen völlig berechtigt als Palast bezeichnet. Der Festsaal im Obergeschoss verströmt neoorientalische Pracht und ist auf die Beköstigung von bis zu 500 Gästen ausgelegt. Versetzt uns schon diese Dimension in Erstaunen, so verschlägt uns Akmal vollends die Sprache: Eine normale usbekische Hochzeit könne durch auf bis zu 2000 Gäste anschwellen.

Die von einer Mitreisenden gestellte Frage jedoch, ob sich eine derartige Opulenz auch der einheimische Fahrer unseres Reisebusses leisten könne, wollte Akmal ebenso wenig beantworten wie zuvor schon jene, ob es im Lande eigentlich riskant sei, sich öffentlich kritisch zum Präsidenten oder zur Regierung zu äußern. Das, so Akmal mit einem verschmitzten Lächeln, das Hodscha Nasreddin alle Ehre gemacht hätte, habe er einfach noch nicht probiert.

 

Bisher erschienen: Taschkent, Blättchen 12/2024; Chiwa, Blättchen 13/2024; Buchara I, Blättchen 14/2024.