27. Jahrgang | Nummer 15 | 15. Juli 2024

Alte und neue Horizonte

von Jürgen Hauschke

Die ursprüngliche Idee geht wohl auf Stefan Zweig zurück, der Verleger Anton Kippenberg setzte sie 1912 in der Buchstadt Leipzig um: Eine preisgünstige, aber nach hohen ästhetischen Ansprüchen gestaltete Buchreihe literarischer Kleinodien für das breite Publikum. Jeder Buchliebhaber kennt sie. Ob er sich nun als Bibliophiler bezeichnet oder auch nicht, hat keine Bedeutung. Die unverwechselbaren Bände der Insel-Bücherei erscheinen seit 112 Jahren ununterbrochen im Inselverlag. Während der deutschen Trennung in zwei Verlagsteilen, in Leipzig und Wiesbaden (dann Frankfurt), heute unter dem Dach des Suhrkamp Verlages. Typografische Noblesse, aufwendig gestaltete Einbände, extra aufgeklebte Titel- und Rückenschildchen, die heute nur noch gedruckt werden, zeichnen die Reihe aus.

Nach dem ersten Band, „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, der Rainer Maria Rilke schlagartig bekannt machte, erschien vor wenigen Wochen der Band 1535. Die Erstausgabe der „Insel-Bücherei Nr. 1“ ist längst vergriffen und ein höchstgesuchtes Sammlerobjekt unzähliger Liebhaber der traditionsreichen Edition geworden. Dem aktuellen Büchlein von Kia Vahland, „Caspar David Friedrich und der weite Horizont“, ist ebenso ein verlegerischer Erfolg zu wünschen. Es muss ja nicht unbedingt erneut eine Auflage von weit über eine Million Exemplaren in der Vielzahl der Jahre sein, aber in die Hände vieler Leser sollte es schon gelangen. Die Aktualität des schönen Büchleins könnte es ermöglichen.

Die heutigen Reihenpreise sind zwar nicht mehr so wohlfeil wie zunächst 50 Reichspfennige und später 1,25 und 2,50 Mark der DDR bis 1990, doch für seine 16,00 Euro erhält der Käufer ein auf gutem Papier gedrucktes und mit etlichen hochwertigen Abbildungen von Werken Friedrichs versehenes Buch. Bereits der Einband lädt zum Betrachten ein: Er zeigt ein Detail aus dem allseits bekannten Bild „Kreidefelsen auf Rügen“ ohne die drei dort von Friedrich – in Rückenansicht wie so oft – dargestellten Betrachter.

Gelesen habe ich das Buch zur Vorbereitung auf den Ausstellungsbesuch in Berlin (siehe Blättchen, 12/2024), und um die Wartezeit zu überbrücken, denn die Zeitfenstertickets sind schnell vergeben.

Die Kunsthistorikerin Kia Vahland lehrt an der MLU München und schrieb als Redakteurin für Art – Das Kunstmagazin und für die Süddeutsche Zeitung. Ihr Ansatz zu Friedrich beruht auf der These: „Bis heute laden Caspar David Friedrichs Gemälde und Zeichnungen ein, innezuhalten, die eigene Gefühls- und Gedankenwelt neu zu vermessen. Sie eröffnen Horizonte, über die Jahrhunderte hinweg und in die Zukunft hinein.“

Vahland sieht Friedrich als den bekanntesten deutschen Künstler nach Albrecht Dürer. Berühmt wurde er vor allem durch seine Bildkompositionen, aber er war auch „ein begnadeter und ambitionierter Farbmaler“. „Zahlreiche Gemälde Friedrichs bestehen aus jeweils nur einer Farbfamilie, die zigfach variiert wird.“ Da helfen auch der beste Bildband und Kunstdrucke nicht weiter. Man muss schon selbst ins Museum gehen, um Friedrich, als wirklichen Farbvirtuosen entdecken zu können. In der Berliner Ausstellung belegen dies „Die Abtei im Eichenwald“ oder die Riesengebirgslandschaften eindrücklich.

Eine zusätzliche Entdeckung für mich waren in der Ausstellung und im Buch die zahlreichen Bleistiftzeichnungen, die ich so noch nicht gesehen hatte.

Friedrich erfand und komponierte seine Landschaften, setzte sie aus realen Details neu zusammen. Manches Sujet hat er nie selbst gesehen wie „Der Watzmann“ oder „Das Eismeer“, aber nach anderen Bildern oder nach dem selbst erlebten Eis auf der Elbe gemalt. Sein ikonisches Werk „Kreidefelsen auf Rügen“ setzte er aus Abbildungen zweier realer Kreidefelsen zusammen.

Immer wieder sehen wir als Betrachter – beim Besuch im Museum oder beim Blick ins Buch – den Rückenfiguren Friedrichs beim Betrachten zu, ob es der „Mönch am Meer” ist oder der „Wanderer über dem Nebelmeer“ oder die „Frau am Fenster“. Die zu einem Erkennungszeichen Friedrichs gewordenen Rückenfiguren schaffen Distanz in den Bilderwelten. Die Beobachter beobachten.

In zwei Buchabschnitten differenziert Vahland zwischen alten und neuen Horizonten, zwischen der heutigen Rezeption im 21. Jahrhundert einerseits und andererseits der zeitgenössischen Rezeption, seinem Vergessenwerden und der Wiederentdeckung in der Berliner Ausstellung der Alten Nationalgalerie von 1906, die Friedrichs Ruf als Vorläufer des Impressionismus begründete, ihm aber auch „äußerst unangenehme Verehrer“ einbrachte, die ihn zum „Blut-und-Boden-Fanatiker“, zum „Nordmann“ und „Symbol für deutsche Art“ umdeuteten.

Erst 1974, zum 200. Geburtstag, stellten sich die Museen in Hamburg und Dresden erneut dem Maler, beide feierten Publikumserfolge. Während die Hamburger das Freiheitliche und Sentimentale der deutschen Romantik betonten, deuteten die Dresdner Kollegen Friedrich als antifeudalen Kämpfer. Vahland zieht den Schluss: „Inzwischen hat sich dagegen die Einsicht durchgesetzt. Caspar David Friedrichs so mehrdeutige Gemälde und Zeichnungen können vereinnahmt werden, sie entziehen sich einfachen Antworten und erst recht allen geschlossenen Denksystemen aber immer wieder. Viel zu eigensinnig war dieser Künstler, viel zu eigenständig ist auch seine Kunst.“

Auf der informativen und anschaulichen (aber mitunter furchtbar gegenderten) Webseite zum Jubiläumsjahr ist zu lesen: „Um den 250. Geburtstag Caspar David Friedrichs zu feiern, arbeiten die Hamburger Kunsthalle, die Alte Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zusammen. Die drei Häuser verfügen über die umfangreichsten Bestände an Werken Friedrichs weltweit. […] Mit […] gegenseitigen Leihgaben ermöglichen die drei Partner*innen (sic!) einzigartige Präsentationen unterschiedlicher Aspekte des Werks von Friedrich.“ Außerdem feiert Friedrichs Geburtsort Greifswald den Maler mit einem ganzjährigen Programm. Die Hamburger Ausstellung ist bereits beendet, die Berliner läuft noch bis zum 1. August und die beiden Dresdner Ausstellungen (Albertinum, Kupferstichkabinett) öffnen ab dem 24. August 2024.

Die aktuelle Friedrich-Literatur ist in der Anzahl umfangreich und dabei oft seitenstark. Boris von Brauchitsch schrieb eine Biographie für den Insel Verlag, Johannes Grave eine für den Prestel Verlag und Florian Illies eine für den S. Fischer Verlag, die zum Bestseller avanciert („Zauber der Stille“).

Man muss das hier empfohlene „schmale“ Buch im Übrigen nicht zwingend vor einem Ausstellungsbesuch lesen, auch nicht nach einem solchen. Es steht selbstverständlich ebenso gut für sich selbst.

 

Kia Vahland: Caspar David Friedrich und der weite Horizont. Insel-Bücherei Nr. 1535, Insel Verlag, Berlin 2024, 110 Seiten, 16,00 Euro.